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Gesundheitssicherheit: Humanitäre Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Gesundheitssicherheit: Humanitäre Auswirkungen der COVID-19-Pandemie

Die Diskussionsveranstaltung der Aurora Dialogues in Venedig mit dem Titel „Gesundheitssicherheit: Humanitäre Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ fand am 10. Oktober 2021 im Rahmen der Veranstaltungen zur Verleihung des Aurora-Preises 2021 in Italien statt. In der außergewöhnlichen zweieinhalbstündigen Gesprächsrunde sprachen Redner aus verschiedenen Regionen und Bereichen offen und ehrlich über die brutale Realität der COVID-19-Pandemie und die Bewältigung ihrer kurz- und langfristigen Folgen sowie über die Anstrengungen, die von der Weltgemeinschaft unternommen werden müssen, um solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern. Trotz der schmerzlichen Erfahrungen, von denen einige der Podiumsteilnehmer berichteten, herrschte auf der Veranstaltung insgesamt eine optimistische Stimmung, und die Teilnehmer brachten ihre große Hoffnung zum Ausdruck, dass die Menschheit aus ihren Fehlern lernt. 

Zu Beginn der Veranstaltung begrüßte Pater Hamazasp von der Kongregation der Mechitaristen die Gäste und hieß sie im 1836 in Venedig gegründeten Moorat Rafael College willkommen, das sich im barocken Palazzo Ca' Zenobio befindet. Er hob die wichtige Rolle hervor, die die Studierenden am College bei dem Wiederaufleben der armenischen Geschichte und Kultur gespielt haben, und wies darauf hin, dass auf dem Deckenfresko des Saals, in dem die Veranstaltung stattfand, Aurora zu sehen ist. „In der Mitte ist Aurora – das Licht des Morgens. Es ist bezeichnend, dass wir unser abschließendes Treffen hier, in diesem Saal, abhalten“, so Pater Hamazasp.

Der Moderator der Diskussion, Lord Ara Darzi, Vorsitzender der Auswahlkommission für den Aurora-Preis und Direktor des Institute of Global Health Innovation am Imperial College London, beglückwünschte anschließend die Aurora-Preisträgerin 2021, Julienne Lusenge, die am Vortag bei der Preisverleihung ausgezeichnet worden war, und übergab das Wort an die Aurora-Mitbegründer Noubar Afeyan und Ruben Vardanyan.

Impact Investor und Social Entrepreneur Ruben Vardanyan, Mitbegründer der Aurora Humanitarian Initiative und von Noôdome, äußerte seine Freude darüber, an dieser besonderen Veranstaltung teilnehmen zu können, obwohl er selbst nicht direkt im medizinischen Bereich aktiv ist. Er sprach über die Verflechtung aktueller Themen und die Tatsache, dass COVID-19 zahlreiche Herausforderungen für alle mit sich gebracht hat. „Was uns allen in den letzten Jahren passiert ist, hat nicht nur die Menschen im Gesundheitswesen getroffen, sondern alle. <…> Diese Pandemie hat uns unglücklicherweise so viele Probleme beschert – nicht nur mit der Impfung, über die wir heute ebenfalls sprechen werden, sondern auch mit der Einsamkeit. Die Menschen fühlten sich allein. Sie haben das Vertrauen in ihre Regierungen und in das System verloren“, so Vardanyan.

Noubar Afeyan, Mitbegründer der Aurora Humanitarian Initiative sowie Mitbegründer und Verwaltungsratsvorsitzender von Moderna und CEO von Flagship Pioneering, sprach darüber, wie er zur humanitären Arbeit kam und wie sehr dies den Erfahrungen anderer von Aurora unterstützter Helden ähnelt, insbesondere wenn es um die Herausforderungen geht, denen sie sich stellen müssen. „Es gibt schmerzliche Parallelen zwischen den Themen, mit denen sich viele der Preisträger beschäftigen, nämlich den von Menschen begangenen Gräueltaten, und dem, was wir heute erleben. Die Pandemie mit weltweit so vielen Todesopfern kommt einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Zufälligerweise handelt es sich dabei um ein durch Viren hervorgerufenes Verbrechen. <…> Aber ein Großteil des Schadens wurde vom Menschen verursacht“, so Dr. Afeyan.

 

Aurora-Finalist 2021 Paul Farmer, Mitbegründer und Chefstratege von Partners In Health (PIH), schloss sich diesem Standpunkt an und fügte hinzu: „Die Entwicklung von COVID hat uns daran erinnert, dass diese Probleme oft von Menschen gemacht sind. Seit vielen Jahren wissen die im Bereich der humanitären Hilfe engagierten Kräfte auch, dass jeglicher Ansatz, der nicht zur Stärkung des Gesundheitssystems führt, ungeeignet ist. Da diese Forderungen schon seit Jahrzehnten erhoben werden, ist endlich der Zeitpunkt gekommen, an dem große Teile der Bevölkerung verstehen, dass wir in die Gesundheitssysteme investieren müssen. Das ist wirklich der größte Lichtblick.“

Mary Robinson, Mitglied der Auswahlkommission für den Aurora-Preis, Vorsitzende von The Elders, ehemalige Präsidentin Irlands und ehemalige Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, sprach das Thema Ungleichheit und die Art und Weise an, wie diese durch die Pandemie noch verschärft wurde. „Die in der Gesellschaft in keiner Weise berücksichtigte unfaire Belastung im Pflegebereich wurde durch COVID noch verschärft. Viele Frauen mussten ihre Arbeit aufgeben. Gleichzeitig waren sehr viele der unverzichtbaren Arbeitskräfte an vorderster Front Frauen, die während der COVID-Pandemie eine Hauptlast bei der Versorgung getragen haben – Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, aber auch Reinigungskräfte und auch die unverzichtbaren Arbeitskräfte in den Lebensmittelgeschäften, viele dieser Aufgaben wurden auch von Frauen übernommen“, so Robinson.

Leymah Gbowee, Mitglied der Auswahlkommission für den Aurora-Preis, Friedensnobelpreisträgerin sowie Gründerin und Präsidentin der Gbowee Peace Foundation Africa, wies auf die Tatsache hin, dass sich viele Menschen in den ärmsten Regionen aufgrund fehlender Mittel nicht an die COVID-19-Vorschriften halten können, und erzählte eine ergreifende Geschichte, um ihren Standpunkt zu veranschaulichen: „Während der Pandemie saß ich in Ghana fest, und als sich die Maskenpflicht durchsetzte, fragte ich den Fahrer, den ich kannte: Warum tragen Sie keine Maske? Und er sagte zu mir: Eine Maske ist ein Dollar. Wenn ich zwischen dem Kauf einer Maske und dem Kauf von Brot für meine Kinder wählen muss, entscheide ich mich für das Brot, denn ich kenne diese Krankheit nicht und weiß nicht, ob ich sie jemals bekommen werde, aber ich kenne den Hunger.“

Das Schlimmste an der COVID-19-Pandemie sind ihre langfristigen Auswirkungen auf Bereiche wie die Bildung, betonte die Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi, Mitglied der Auswahlkommission für den Aurora-Preis, Friedensnobelpreisträgerin und Gründerin des Defenders of Human Rights Center im Iran. „COVID führte dazu, dass viele Menschen ihre Ausbildung abbrachen und sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter vergrößerte. Im Iran gab es, wie in vielen anderen asiatischen Ländern, eine sehr schlechte Infrastruktur und ein äußerst dürftiges Angebot an Online-Unterricht. Offiziellen Angaben zufolge konnten etwa 3 Millionen Studierende und Schülerinnen und Schüler ihre Ausbildung nicht fortsetzen, aber wir glauben, dass es in Wirklichkeit doppelt so viele sind“, so Ebadi.

Fehlinformationen, ein Mangel an glaubwürdigen Informationen sowie Falschmeldungen trugen ebenfalls zu den verheerenden Auswirkungen der Pandemie bei, so Dele Olojede, Mitglied der Auswahlkommission für den Aurora-Preis, Pulitzer-Preisträger und Vorstandsvorsitzender des Kashim Ibrahim Fellowship: „Wir haben uns aus der Qualität heraus innoviert, und diese Technologieplattformen haben gewissermaßen die Torwächterfunktion [des Journalismus] zerstört. <…> Die Torwächterfunktion besteht darin, festzustellen, was die Fakten sind, und das ist nicht gelungen. Als die Pandemie ausbrach, hatte dies zur Folge, dass niemand die öffentliche Diskussion lenkte. Viele Gerüchte und Unwahrheiten gelangten in das System.“

 

Aurora-Preisträger 2019 Mirza Dinnayi, Mitbegründer und Direktor des Vereins Luftbrücke Irak, sprach über den zusätzlichen Druck, der durch den Ausbruch des Coronavirus auf die Flüchtlinge entstanden ist. „Es gibt bestimmte Gemeinschaften, die bereits sehr stark unter dem Konflikt gelitten haben. <…> Nach der Pandemie wurde die Herausforderung für sie aufgrund von Bewegungseinschränkungen und anderen Faktoren tausendmal schwieriger. Wir sahen Menschen, deren Leben in Gefahr war, und sie befanden sich in einer sehr schwierigen Situation – sie konnten nicht weg. Es wurde ihnen auch gesagt, dass sie den Kontakt zu anderen Menschen vermeiden sollten, aber sie lebten in Flüchtlingslagern in 4 x 4 Meter großen Zelten, und die nächste Familie war nur drei Meter entfernt.“

Diese Auffassung wurde von der Aurora-Preisträgerin 2016, Marguerite Barankitse, Gründerin von Maison Shalom, bestätigt, die die Verwundbarkeit der Flüchtlinge hautnah miterlebt hat. Sie hat auch ihre Enttäuschung über die weltweite Reaktion auf COVID-19 zum Ausdruck gebracht: „Die Pandemie hat die Schwäche der UN und anderer Organisationen offenbart. Als die Pandemie über uns hereinbrach, begann für uns der Lockdown. Flüchtlinge können in der Regel mit kleinen alltäglichen Aufgaben überleben, um etwas Essen zu bekommen. Und im Lockdown musste sich jeder an die Vorschriften halten, d. h. man durfte keinen Kontakt zu anderen Menschen haben. <…> Es war ein völliges Chaos. Wie können die Menschen in einem Lager überleben, wenn sie nichts zu essen bekommen? Die Behörden und internationalen Organisationen waren nicht vorbereitet. Sie müssen reformiert werden.“

Dem stimmte Paul Polman, Mitglied der Auswahlkommission für den Aurora-Preis und Mitbegründer und Vorsitzender von IMAGINE, vorbehaltlos zu. „Wir müssen sicher sein, dass die internationale Ordnungspolitik funktioniert. Wir müssen sowohl auf der oberen als auch auf der unteren Ebene an einem Strang ziehen. Man sagt, COVID-19 sei die größte Krise gewesen, aber wir hatten alle zwei bis drei Jahre andere Krisen, die mit der Zerstörung der Artenvielfalt und dem Klimawandel zu tun hatten. Die Überraschung war nicht COVID-19, sondern unsere Unfähigkeit, den Anforderungen gerecht zu werden, die sich daraus ergeben. <…> Die Institutionen, die wir in den 1940er Jahren geschaffen haben, entwickeln sich nicht im erforderlichen Tempo weiter, und bei COVID mussten wir feststellen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben“, so Polman.

Es war geradezu erschütternd, Ratschläge zur Gesundheitssicherheit von Menschen und Organisationen zu erhalten, die absolut keine Ahnung von den örtlichen Gegebenheiten hatten, bemerkte die Aurora-Preisträgerin 2020 Fartuun Adan, Geschäftsführerin des Elman Peace and Human Rights Center in Mogadischu: „In Somalia haben wir eine Krise, wir haben Krieg, und zusätzlich haben wir noch das Coronavirus. Die Botschaft, die wir von der Welt erhielten, lautete: Wascht eure Hände, bleibt zu Hause, passt auf euch auf. Und das half uns überhaupt nicht weiter! Die meisten Somalier müssen arbeiten gehen, um Essen auf den Tisch zu bringen. Wasser zum Händewaschen zu bekommen, war auch nicht so einfach. Wie kann man diese Botschaft an Menschen richten, die unter solchen Bedingungen leben?“ 

Bernard Kouchner ist Mitglied der Auswahlkommission für den Aurora-Preis, Mitbegründer von „Ärzte ohne Grenzen“ und ehemaliger Gesundheits- und Außenminister Frankreichs. Er hat sein Leben der Entwicklung von Strategien und der Bereitstellung von Gesundheitsdiensten für unterversorgte Bevölkerungsgruppen gewidmet und wies eindringlich darauf hin, dass dieses Problem eng mit anderen Faktoren zusammenhängt und nur auf politischer Ebene gelöst werden kann. „In der Vergangenheit haben wir uns nie auf andere Gemeinschaften konzentriert, sondern immer nur auf unsere eigene, daher ist dies auch ein hochpolitisches Problem. Medizin ist politisch. Wir versuchen seit langer Zeit zu kommunizieren, dass Medizin in der Politik verankert werden sollte, um die Welt ein Stück besser zu machen. Man muss nicht Unmögliches tun, aber man sollte Schritt für Schritt vorgehen“, betonte Kouchner.

Arman Voskerchyan, Gründer und Geschäftsführer von AVC Solutions for Healthcare, betonte die Notwendigkeit, das Konzept der Versorgungspflicht weiterzuentwickeln, wenn wir die eklatanten Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung überwinden wollen. „Bereits vor der Pandemie war der Zugang zu Gesundheitstechnologien und -produkten ein großes Problem. Betrachtet man Afrika, das etwa 18-19 % der Weltbevölkerung ausmacht, so liegt der Anteil Afrikas an den medizinischen Geräten und Technologien bei nur 1,3 %. Ein Beispiel dafür sind Lungenbeatmungsgeräte, die für das Überleben von COVID-19-Patienten entscheidend sind. In Afrika gibt es nur 1,04 % der weltweiten Anzahl von Beatmungsgeräten, und das ist wirklich eine Katastrophe“, erklärte Voskerchyan.

 

Die Diskussion sollte möglichst umfassend sein, weshalb die Zuhörer aufgefordert wurden, ihre Meinung zu einigen der angesprochenen Themen zu äußern. David Ignatius, Mitherausgeber und Kolumnist der Washington Post, kam auf die Frage der Verantwortlichkeit der Medien zurück: „Zeitungen in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern müssen mit rechtlichen Schritten rechnen, wenn sie leichtfertig falsche Informationen veröffentlichen. <…> Eine ganz einfache Herausforderung besteht darin, die jetzigen Vorgaben für Zeitungen auf die anderen Publikationsplattformen auszuweiten“, so Ignatius.

Dr. Leila Alikarami, iranische Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin, forderte alle auf, das Bewusstsein für die zusätzlichen Gefahren zu schärfen, denen Aktivisten aufgrund von COVID-19 ausgesetzt sind. „Ich möchte über die Situation von Menschenrechtsverteidigern sprechen, insbesondere von Frauen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Im Zuge von COVID hat sich ihre Situation sogar noch verschlechtert. <…> Beim Schreiben an Behörden und Politiker muss man bedenken, dass die Menschen vor Ort, die Menschenrechtsaktivisten und diejenigen, die sich für den Zugang zu Impfstoffen einsetzen, in vielen Ländern strafrechtlich verfolgt oder ins Gefängnis gesteckt werden“, so Dr. Alikarami.

Aurora-Preisträgerin 2021 Julienne Lusenge, Menschenrechtsverteidigerin, Mitbegründerin der Frauensolidarität für inklusiven Frieden und Entwicklung (SOFEPADI) und des Fonds für kongolesische Frauen (FFC), wies auch auf die verheerenden Folgen der Pandemie für Frauen hin. „Als die Pandemie begann, herrschte Angst. Die Bevölkerung hatte große Angst. Wir sahen im Fernsehen, dass Tausende Menschen starben. Hinzu kommt, dass Frauen in der Regel auf formlose Arbeit angewiesen sind. Durch COVID konnten sie nicht arbeiten gehen und mussten ihre Ersparnisse ausgeben. Jetzt haben sie absolut nichts mehr“, beklagte Lusenge.

Aurora-Finalistin 2021 Ruby Alba Castaño, Menschenrechtsaktivistin und Gründerin von ASOCATDAME (Vereinigung der Landwirte, Landarbeiter und Umweltschützer von Meta) ging sogar so weit, den Mangel an transparentem und objektivem Journalismus mit den Gefahren eines Krieges zu vergleichen. „Es gibt Dinge, die schlimmer sind als Gewehre, schlimmer als Kugeln. Es sind die Mikrofone der Medien. Manchmal verbreiten die Nachrichten einfach nur puren Hass. Wenn die Leute, die den Krieg finanzieren, es wollen, können die Opfer nicht über die Medien über die Geschehnisse berichten. Ich würde es begrüßen, wenn man dieses wichtige Thema auf die internationale Agenda setzen würde“, so Castaño.

Abschließend bedankte sich Lord Ara Darzi bei allen Teilnehmern der Diskussion, die ebenso informativ wie offen war. „Ich möchte mich an dieser Stelle bei unserem hochkarätigen Teilnehmerkreis für Ihre hervorragenden Beiträge bedanken, für die Vielfalt der Beiträge [von Ihnen] und auch für die Anregungen aus dem Publikum. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Es gibt hier viele wertvolle Informationen“, so Lord Darzi und fügte hinzu, dass er mit den Gründern über eine Zusammenfassung der Diskussion in Form eines Diskussionspapiers sprechen wolle, aus dem man Lehren für die Zukunft ziehen könne.