Soldaten sollen vor allem eines: Befehle befolgen. Zuwiderhandelnde müssen mit ernsten Folgen für ihre Befehlsverweigerung rechnen. Louis Dartige du Fournet, ein Vizeadmiral der französischen Flotte im östlichen Mittelmeer, die eine Blockade der Küsten des Osmanischen Reiches nahe Syrien durchführte, war sich der Konsequenzen sehr wohl bewusst, sollte er auf eigene Faust handeln. Dennoch gab er den Befehl, 4000 armenische Männer, Frauen und Kinder vor dem sicheren Tod zu retten, die am Fuße des Mosesberges im südöstlichen Zipfel der heutigen Türkei ausharrten.
Louis Dartige du Fournet wusste nicht, wie seine kommandierenden Offiziere auf die Befehle reagieren würden, dennoch wartete er nicht ab. Der bürokratische Albtraum, den das Eingreifen in solch einen Konflikt mit sich brachte, hätte ihm nicht klarer sein können, doch dafür fehlte ihm die Zeit.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf im Sommer 1915, als sich die Räte von sechs Dörfern mit armenischer Bevölkerungsmehrheit im Bezirk Suede, nämlich die von Haji Habibli, Kebusiyeh, Vakif, Kheder Bek, Yoghunoluk und Bitias, den Anordnungen der Türken widersetzten, sich auf Märschen aus ihrer Heimat deportieren zu lassen. Am 30. Juni leisteten einige der armenischen Bewohner den Anordnungen der Türken Folge und kamen schließlich auf den Märschen in die Syrische Wüste ums Leben. Andere hingegen, eine Gruppe von etwa 5000 Armeniern, ließen Haus und Hof zurück und flohen an den Fuß des Mosesberges an der nördlichen Spitze der Bucht von Antiochia. Dort leisteten sie tapfer militärischen Widerstand gegen die türkische Übermacht.
Unter den 5000 Armeniern gab es gerade einmal 600 Kämpfer und es mangelte an Waffen. Doch sie waren fest entschlossen und sehr diszipliniert.
Am Fuß des Berges errichteten sie provisorische Befestigungsanlagen. Anfangs war der Widerstand der armenischen Kämpfer heroisch, doch als Nahrung und Munition allmählich zur Neige gingen, verschlimmerte sich die Lage zusehends.
Um die Aufmerksamkeit der Besatzung eines alliierten Kriegsschiffes auf sich zu lenken, hissten sie zwei Flaggen aus Bettbezügen, die man von See aus erkennen konnte. Auf dem einen war ein rotes Kreuz, auf dem anderen prangte der Schriftzug „Christen in Gefahr“. Sie zündeten auch Feuer neben den Flaggen an in der Hoffnung, dass man sie so besser sehe.
Überlebende vom Mosesberg mit einer der Flaggen, die von der französischen Marine bemerkt worden waren, The Graphic vom 13. November 1915.. |
Nach fast einem Monat des Kampfes entdeckte die Besatzung des französischen Kreuzers Le Guichen den Hilferuf. Peter Dimlakian, ein Mitglied des Widerstandes, ging an Bord und sprach direkt mit dem französischen Kommandanten. Die Franzosen fuhren weg mit dem Versprechen auf Hilfe.
Wie Vizeadmiral Dartige du Fournet am 6. September in sein Tagebuch schreibt, erhielt er ein Telegramm darüber und fuhr mit der Jeanne D’Arc Richtung Antiochia. Tags darauf näherte sich das Kriegsschiff der Küste und erkundete die Lage. Tigran Andreasyan, einer der armenischen Führer kam an Bord und bat, wenigstens Frauen, Kinder und Alte zu evakuieren. Auch ihm versprach man, dass die französische Marine helfen würde.
„Mir wurde klar, dass ich diesen armen Menschen helfen musste“, schreibt Louis Dartige du Fournet in sein Tagebuch. Er sandte ein Telegramm an das Oberkommando, doch er machte sich große Sorgen wegen der komplexen Bürokratie in seiner Heimat Frankreich.
Auf die Gefahr hin, seiner Karriere zu schaden, gab er den Befehl, alle verfügbaren Kreuzer zum Mosesberg (Musa Dagh) zu schicken und umgehend mit der Evakuierung zu beginnen.
Die Lage beschrieb er folgendermaßen: „Die Zeit war knapp und was auch immer uns [das Oberkommando] sagen würde, es war unumgänglich, alle zu evakuieren.“
Louis Dartige du Fournet aus der Sammlung des Armenischen Völkermordmuseums. |
Der Vizeadmiral setzte sich auch mit den britischen Behörden auf Zypern und in Ägypten in Verbindung mit der Bitte um Beherbergung der Flüchtlinge. Zunächst lehnte man sein Ansinnen ab, doch schließlich konnte er die Alliierten davon überzeugen, ein Flüchtlingslager im ägyptischen Port Said einzurichten, auch ohne die Zustimmung seiner Vorgesetzten.
Am 10. September, dem 41. Tag des Widerstandes, begannen französische Kriegsschiffe in einer verdeckten Operation mit der Bombardierung osmanischer Stellungen am Mosesberg. Am 12. September näherten sich fünf französische Kreuzer – Le Guichen, L'Amiral Charner, Le Desaix, La Foudre und Le D'Estrées – der Küste, gingen vor Anker und ließen Boote ins Wasser. Tiran Tekeyan, ein armenischer Offizier auf der Desaix, koordinierte die Rettungsmission, die drei Tage dauerte. Als erstes wurden die Frauen, Kinder und Alten evakuiert, danach die Kämpfer.
Am Ende betrug die Zahl der so Geretteten 4058, darunter 1563 Kinder, von denen einige während der Operation selbst zur Welt gekommen waren.
Einige an Bord geborene Kinder erhielten den Namen Guichen zu Ehren des ersten Kreuzers, dessen Besatzung den Hilferuf vom Mosesberg entdeckt hatte.
„Unter ihnen befanden sich arme kleine Säuglinge, in Handtücher gewickelt, die unter dem Tosen der Wellen von Hand zu Hand gereicht wurden. Sie wurden über das Wasser gebracht und werden nie wissen, welcher Gefahr sie tatsächlich entgangen waren“, schreibt Louis Dartige du Fournet in sein Tagebuch.
Flüchtlinge vom Mosesberg gehen an Bord der französischen Schiffe, The Sphere vom 30. Oktober 1915. |
Als die Flüchtlinge Ägypten erreichten, bot man ihnen Obdach, Nahrung, medizinische Versorgung und Unterricht: So hatte Louis Dartige du Fournet es arrangiert.
Drei Monate nach der Evakuierung erhielt er eine Antwort auf sein ursprüngliches Telegramm. Sie enthielt nur einen Satz auf Französisch: „Où se trouve Mont Moïse? (Wo liegt der Mosesberg?)“ Dies beweist, dass nicht ein einziger Flüchtling überlebt hätte, hätte er sich an die militärische Vorgehensweise gehalten.
Am 10. Oktober 1915 wurde Louis Dartige du Fournet zum alliierten Kommandanten im Mittelmeer ernannt. Nach der Landung französischer Soldaten nahe Athen im Dezember 1916 wurde er entlassen. Er heiratete eine Witwe und hatte nie eigene Kinder. Er lebte in einem kleinen Landhaus in der Nähe des südfranzösischen St. Chamassy, wo er 1940 verstarb und beigesetzt wurde. Nicht zum Zeitpunkt seines Todes und auch nicht in den Jahrzehnten darauf wusste man in Frankreich von seiner Rettungsmission.
2010 stellte Tovmas Aintabian, der Nachfahre eines Überlebenden vom Mosesberg, Nachforschungen über das Leben des Vizeadmirals an, die ihn in dessen Heimatort und an sein Grab führten. Tovmas Aintabian setzte sich mit den Behörden von St. Chamassy in Verbindung und arrangierte eine gemeinsame Gedenkveranstaltung zu Ehren des Retters seines Vorfahren. So erfuhr Frankreich von Louis Dartige du Fournet, denn die meisten französischen Fernsehsender und Zeitungen berichteten von dem Ereignis. Eine aus Marmor gemeißelte Flagge wurde auf seinem Grab aufgestellt: Sie erinnert an diejenige Flagge, die von den Freiheitskämpfern gehisst worden war.
Das Grab von Louis Dartige du Fournet ist zu einer Pilgerstätte für Armenier und Franzosen geworden, die dem Mann ihre Ehrerbietung erweisen wollen, der viel riskierte und so viele rettete.
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.
Titelbild: Kämpfer von Musa Dagh mit der selbstgenähten Rotkreuzflagge. Jahre später nach der Verteidiung.