„Wir sind sehr stolz auf unsere Tante Susan Wealthy Orvis“, sagt Nancy Moore aus Toronto. „Sie rettete Tausende von armenischen und griechischen Kindern vor den Massakern, doch nur wenige Menschen kennen überhaupt ihren Namen.“
Von Kamo Mailyan and Wendy Elliott
Nancy und ihr Ehemann Eric wollen dies unbedingt ändern, kurz bevor sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal jährt. Sie tragen Papiere aus den Archiven der Harvard University und dem Oberlin College in Ohio zusammen, stöbern im Rockefeller Archive Center und ergänzen das alles mit ihrer eigenen Sammlung von persönlichen Briefen, um die bemerkenswerte Geschichte von Susan Wealthy Orvis zu rekonstruieren.
Von 1902 an bereiste Orvis die Welt als Missionarin für die amerikanische Kongregationskirche und später für den amerikanischen Kommissionsauschuss für Auslandsmissionen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs reiste sie im Auftrag der Notwaisenhäuser für den Nahen Osten ins türkische Gesaria, dem heutigen Kayseri. Noch bevor ein Jahr vergangen war, reiste sie weiter ins damals zu Russland gehörende Tiflis, das heute Hauptstadt eines unabhängigen Georgiens ist. „Wir wollten versuchen, den Christen zu helfen, die vor den Massakern und Todesmärschen aus dem Osmanischen Reich nach Russland geflohen waren“, hielt sie 1917 in ihrer Handschrift „Durch Russland“ fest. „Die Zahl der armenischen Flüchtlinge ging in die Hunderttausende. Allein in Tiflis gaben wir 15.000 Waisen Kleidung. Andere Missionare wurden von den Kurden am Fuß des Ararat an der Weiterreise ins russische Georgien gehindert. Sie waren in Igdir, wo es schlimmer zuging als anderorts.“
Der Zustand der Flüchtlinge erschreckte Orvis zutiefst. „Wir halfen auch den Waisen in den Heimen. Es waren Kinder, die ihre Väter bei den Massakern verloren hatten und zusammen mit ihren Müttern mittellos bei uns gestrandet waren. Die Alten waren sogar noch bemitleidenswerter als die Kinder, es ging ihnen schrecklich: Sie waren gezeichnet von Kälte, Krankheit, Einsamkeit und Vernachlässigung.“
Man schätzt, dass anderthalb Millionen Armenier zwischen 1915 und 1923 ums Leben kamen, aber auch mit den Helfern war man nicht zimperlich. Orvis lebte in der ständigen Angst, dass die Behörden ihren Besitz durchsuchen oder sie gar deportieren, daher erlegte sie sich eine Selbstzensur auf. „Es war so niederschmetternd, die furchtbare Not, das Elend, den Dreck und die Hilfsbedürftigkeit mit anzusehen und nicht zu wissen, wie man all das Leid lindern soll“, schrieb sie.
Ihre Mission musste bald darauf für kurze Zeit umziehen: von Tiflis nach Alexandropol, dem heutigen Gjumri in Armenien. „Dort versuchten wir, uns um Tausende von Flüchtlingen zu kümmern, die von nichts anderem lebten als dem, was wir ihnen geben konnten. Die Menschen starben jeden Tag auf der Straße. Ich begann, Milch von der Molkerei zu besorgen. So stieg die Zahl der von uns gefütterten Babys auf 300.“
Bald darauf wurden sie aufgefordert, Alexandropol zu verlassen, weil die Türken von Kars aus vorrückten. Alle Armenier mussten fliehen. Viele wurden in der Stadt oder auf der Flucht abgeschlachtet.
„Tante Susan und die anderen Missionare kehrten 1919 zurück in die Region Gesaria“, sagte Nancy Moore. „Sie wollten natürlich den Waisen helfen. Da Gesaria jedoch von anderen Ländern nicht anerkannt wurde, war es schwierig, an Hilfsgüter zu kommen oder sich sicher zu fühlen. Sie lebte vier Jahre fast wie eine Gefangene unter der strengen und misstrauischen Überwachung durch die dortige Regierung.“
„Monatelang hatte ich meine Koffer immer gepackt und trug Geld bei mir, da ich nicht wusste, was im nächsten Moment passieren würde“, schrieb Orvis. „Wir hatten große Angst, dass man uns deportiert und die Tausenden von armenischen Waisenkindern in unserer Obhut dann auf Märsche schickt, auf denen sie an Hunger und anderen erlittenen Grausamkeiten sterben. Das hatten wir schon zu oft gesehen.“
Inzwischen hatte sich Orvis an die rauen Bedingungen, wie sie in den Flüchtlingslagern nach Ende des Ersten Weltkriegs herrschten, gewöhnt. Doch ihre größten Herausforderungen sollte sie erst noch bestehen, so auch der große Brand von Smyrna, mit dem alles begann.
Smyrna, das heutige Izmir, war ein wichtiges Finanz- und Kulturzentrum am östlichen Rand des Mittelmeers an der türkischen Küste. Es teilte sich grob in drei Viertel: der höher gelegene Teil wurde auf der einen Seite von Muslimen, auf der anderen von Juden bewohnt, die Hafengegend war christlich geprägt, dort wohnten Griechen und Armenier. Seit Ende des Ersten Weltkriegs war die Stadt von den Griechen besetzt. Am 9. September 1922 fielen die Türken in Smyrna ein und stießen gleich ins christliche Viertel vor. Wenige Tage darauf wurde das Hafenviertel in Brand gesetzt und brannte vier Tage.
Die systematische Vernichtung der Menschen und Gebäude dauerte jedoch zwei Wochen. Mehr als 10.000 Griechen und Armenier sowie ausländische Staatsangehörige, die sich zu einem Besuch in der Gegend aufhielten, wurden getötet. Viele Menschen wurden von den Kriegsschiffen anderer Staaten gerettet, die vor der Küste kreuzten. Die Besatzungen dieser Schiffe durften allerdings nicht eingreifen und mussten weiteren Massakern an den vielen Zurückgebliebenen tatenlos zusehen.
Orvis begab sich eilends nach Smyrna und wollte so viele Kinder wie möglich retten. „Auf meinem Weg dorthin traf ich eine große Gruppe griechischer Frauen und Mädchen, die von der Gegend um Smyrna nach Gesaria deportiert worden waren. Viele von ihnen waren auf dem beschwerlichen Marsch an Hunger gestorben. Beim Anblick von Essen gerieten sie außer sich vor Freude. Wir gaben ihnen etwas außerhalb der Stadt, am Fuß des Berges. Einige von ihnen nahm ich mit, für andere kam jede Hilfe zu spät.“ Das überrascht nicht weiter, denn sie hatten die Entfernung von 800 Kilometern zwischen Smyrna und Gesaria zu Fuß zurückgelegt.
Im November organisierte Orvis den Transport von 3000 Waisenkindern aus Gesaria über das südlich gelegene Tarsus, um sie aus der Türkei und nach Syrien und Griechenland zu bringen. Fünfzehn Karawanen bestehend aus Planwagen überquerten die Berge entlang der Bahnstrecke nach Bagdad. „Jede Karawane brauchte fünf Tage für die Reise“, schrieb Orvis. „Ich trug für sie alle die Verantwortung und musste zusehen, dass sie genug zu essen und einen sicheren Rastplatz bei Nacht hatten. Ich fuhr in einem Lastwagen entlang der Route hin und her und behielt sie auf ihrem Weg im Auge.“
Als Nancy Moore durch die Briefe und Familienfotos ihrer Tante blätterte, sagte sie, Orvis habe einen Artikel für die Februarausgabe von „The New Near East“ im Jahr 1923 geschrieben und ihre Erfahrungen in zwei Sätzen zusammengefasst: „Nie zuvor in meiner Zeit im Nahen Osten musste ich so viel menschliches Leid, so viel Not und Tod mit ansehen wie von dieser Massenflucht verursacht: Eine der reichsten Provinzen der Türkei wird entvölkert. Es war ein Marsch des Grauens.“
Ein besonderer Brief aus Moores Sammlung fasst alles noch einmal zusammen: „Tante Susan schrieb einem Freund, sie könne voller Glück berichten, dass nicht eines der 3000 von ihr aus dem Osmanischen Reich geretteten Kinder auf dem Transport gestorben sei. Alle kamen wohlbehalten an. Sie war 48 Jahre alt zu der Zeit. Ist das nicht beachtlich? Ich möchte, dass jeder ihren Namen kennt.“
Kamo Mailyan ist Absolvent der Menschenrechtsabteilung des Zoryan-Instituts, eines internationalen Instituts für Studien über Völkermord und Menschenrechte.
Wendy Elliot ist Verfasserin von „The Dark Triumph of Daniel Sarkisyan“, einem Jugendroman über einen Jungen und seine Schwester, die beide den Völkermord an den Armeniern überleben.
Die Geschichte erschien zuerst in der „Armenian Weekly“.
Bilder mit freundlicher Genehmigung des Armenischen Genozid-Museum-Instituts.
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.