Shant Mardirossian

Shant Mardirossian

Der ehemalige Vorsitzende der Stiftung für den Nahen Osten Shant Mardirossian kam im libanesischen Beirut zur Welt. 1969 zog er mit seiner Familie ins Viertel Woodside im New Yorker Stadtteil Queens. Er erinnert sich, wie er seine Mitschüler in der vierten Klasse anlässlich ihrer wöchentlichen Gesprächsrunde über den Bürgerkrieg im Libanon aufklärte. Damals wurde ihm klar, dass er eine Leidenschaft für Geschichte und den Nahen Osten hat.
 

Shant Mardirossian besuchte die Lubin School of Business der Pace University in New York und schloss dort sein Studium der Wirtschaftswissenschaften ab. Er machte Karriere in der Finanzwelt und leitet zurzeit als Partner das operative Geschäft von Kohlberg & Company, einer mittelständischen Private-Equity-Firma. 

Eine einmalige Chance

Als Shant Mardirossian aufwuchs, redeten seine Großeltern – alle vier hatten den Völkermord überlebt – nicht über das, was ihnen 1915 widerfahren war. Dennoch ahnte er, dass sie Schreckliches durchgemacht haben mussten.

Einige Familienmitglieder verdanken ihre Rettung zum Teil der 

Stiftung für den Nahen Osten (Near East Foundation, früher Near East Relief), die sich unermüdlich für die Armenier einsetzte.

Als man Shant Mardirossian einen Posten im Vorstand der heutigen Stiftung für den Nahen Osten anbot, nahm er gerne an. Denn so konnte er sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen: mehr über die Geschichte seiner Familie zu erfahren und über die vielen anderen, die ähnliche Herausforderungen zu meistern hatten.

Eines Tages zeigte ihm der ehemalige Banker und Vorstandskollege Antranig Sarkissian Kisten mit alten Fotografien, die in einem Lagerhaus aufbewahrt wurden. Auf den Aufnahmen waren armenische Waisenhäuser zu sehen, die von der Hilfsorganisation für den Nahen Osten gegründet worden waren. Beide Männer erkannten sofort die historische Bedeutung ihres Fundes und überzeugten die Mitverantwortlichen in der Stiftung, dass man diesen Schatz professionell archivieren müsse. 2003 kam es so zur ersten Ausstellung im Museum der Stadt New York, die von Neery Melkonian als leitender Kuratorin betreut wurde. Zu der Zeit war die Stiftung vor allem in Marokko, Mali, Ägypten, Jordanien, dem Sudan und Palästina aktiv. 2004 machte Shant Mardirossian den Vorschlag, sich wieder Armenien zuzuwenden.

Unter seiner Führung rief die Stiftung ein kleines Pilotprojekt ins Leben, um die wirtschaftliche Entwicklung kleiner Dörfer auf dem Land zu fördern. Es folgten Kurse für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. In ihnen sollten sie lernen, wie man einen kleinen Betrieb aufbaut. Die Stiftung ist auch weiterhin der innovative Vordenker in der Region. Zu verdanken hat sie dies ihrem Programm mit dem schönen Namen „Olivenöl ohne Grenzen“, das zwischen israelischen und palästinensischen Olivenbauern vermittelt und so Frieden schaffen will. Auch der vielen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak nahm sich die Stiftung an. Sie half den Menschen und lehrte sie, kleine Betriebe in den libanesischen und jordanischen Gemeinden aufzubauen, die sie aufgenommen hatten.

 

 

                                  Shant Mardirossians Großmutter Mary Libarian

Ein amerikanisches Waisenhaus rettet Leben

Shant Mardirossians Großmutter väterlicherseits hieß Mary Libarian. Im Alter von gerade einmal acht Jahren musste sie sich mitsamt ihrer Familie auf den langen Marsch von Aintab, dem heutigen Gaziantep in der Südtürkei, ins syrische Aleppo machen. Die Eltern starben unterwegs an Krankheit und Unterernährung. Nun waren ihre sechs Geschwister und sie Waisen. Zwei ihrer Brüder entkamen und rannten davon. Der eine schaffte es, sich bis nach Hause durchzuschlagen, der andere verschwand. Er wurde entweder getötet oder assimiliert. Bis zum heutigen Tag ist sein Schicksal ungewiss. „Es ist ein Rätsel, wie es in beinahe jeder Familie Westarmeniens vorkommt“, merkt Shant Mardirossian an.

Die anderen Geschwister zogen weiter von Aleppo nach Kilis. Auf ihrem Weg kamen sie durch viele Dörfer. Manchmal fanden sie unterwegs Unterschlupf, manchmal mussten sie um Essen betteln. Oft ernährten sie sich nur von Gras und wurden krank. Sie schliefen im Freien auf Kirchplätzen. Überall um sie herum der Tod, der ständige Begleiter der Armenier. 

Mary und ihre Geschwister lebten in verschiedenen Waisenhäusern, einschließlich dem in Kilis. Geleitet wurden diese von amerikanischen Protestanten. Nach dem Zusammenschluss der Heime übernahm die Hilfsorganisation für den Nahen Osten als Dachverband die Verantwortung für Unterhalt und Leitung. Als Mary versuchte, nach Ende des Ersten Weltkrieges nach Hause zurückzukehren, gab es für sie kein Durchkommen. Der Siegeszug der nationalistisch-kemalistischen Truppen machte ihre Pläne zunichte. So machte sie sich auf nach Urfa, dem heutigen Sanliurfa in der Südtürkei, wo sie Shants Großvater kennenlernte. Gemeinsam mit anderen Überlebenden schafften sie es nach Aleppo.

 

Mary Libarian Mardirossian (Mitte) und Garabed Mardirossian (rechts). Frau Lucararian, eine Freundin der Familie (links), hält Vahan Mardirossian, Shants Onkel.

Nach dem Tod seiner Großmutter las Shant Mardirossian die Memoiren der Großmutter, die sie ihren Kindern vermacht hatte. „Die Aufzeichnungen meiner Mutter“, so der einfache Titel, lassen einem den Atem stocken und das Herz gefrieren:

„Wir wurden aus unseren Häusern vertrieben. Wir mussten losmarschieren. […] Noch im selben Jahr verlor ich beide Eltern. […] Nach ihrem Tod wurde das Leid immer schlimmer. […] Wir hausten in Zelten in einer Wüste mit Namen Schatma, als man uns mitteilte, wir würden nach Deir er-Zor getrieben. […] Meinem älteren Bruder Hovhannes haben wir es zu verdanken, dass uns die Flucht aus dem Lager in eine Stadt namens Kilis gelang. Da er und mein anderer Bruder Yesayi dort nicht lange bleiben konnte, gingen sie fort in andere Städte: Hovhannes nach Etesia, wie Urfa auf Armenisch heißt, und Yesayi nach Aintab. Von ihm haben wir nie wieder gehört. […] Unsere Nachbarn sorgten schließlich dafür, dass wir in einem Waisenhaus unterkamen. Wir waren zu fünft, vier Schwestern und unser jüngster Bruder Hagop, der damals drei oder vier war. Die älteste von uns Schwestern war Takouhi, damals gerade fünfzehn Jahre alt. Sie sorgte für uns, so gut sie konnte. Die jüngste von uns war erst wenige Monate zuvor abgestillt worden, als unsere Mutter starb.“

Manche der Waisenhäuser waren modern und die Versorgung dort war gut, aber in vielen mangelte es oft am Nötigsten. In einem anderen Abschnitt aus „Die Aufzeichnungen meiner Mutter“ wird beschrieben, unter welch schwierigen Bedingungen sich die tapferen Helfer abmühten, um die Waisenhäuser am Laufen zu halten:

„Das Waisenhaus bot den größtmöglichen Schutz vor denen, die uns holen wollten. Doch manchmal kamen auf Anweisung des Ortsvorstehers Soldaten und wir mussten uns in einer Reihe aufstellen. Dann nahmen sie mit, wer ihnen gefiel. Um gar nicht erst in die Situation zu geraten, schnitten die Heimmütter uns Mädchen die Haare kurz und steckten uns in Jungenkleidung. Die älteren unter uns versteckten sie vor den Soldaten stundenlang im Keller. Die Decke dort war so niedrig, dass man nicht aufrecht stehen konnte. Fünfzehnjährige wie meine Schwester Takouhi litt jedes Mal unter schwerer Atemnot, die von der Hitze dort unten herrührte.“

Trotz des erlittenen Leides und der unendlichen Trauer finden sich in Marys Buch auch Worte des Dankes gegenüber einigen muslimischen Familien, die den Geschwistern unterwegs halfen:

„Wir kamen in ein Dorf. Von den Bewohnern wurden wir willkommen geheißen. Sie brachten uns unter in großen Häusern mit Hof in der Mitte. Sie nahmen uns nicht mit in die Stadt, denn sie sagten, dafür seien wir zu schmutzig. Doch unser Essen bekamen wir aus der Stadt, wofür wir dankbar sein mussten. Einige Mütter in der Nachbarschaft kümmerten sich sogar um uns.“

 

 

                                       Mary Libarian im New Yorker Stadtteil Queens um 1990

Eine gerettete Generation

Shant Mardirossian ist stolz auf seine Arbeit bei der Stiftung für den Nahen Osten. Dreizehn Jahre war er Direktor und neun weitere Vorstandsvorsitzender. „Man muss sich klar machen, was unsere Hilfsorganisation, wie sie damals noch hieß, geleistet hat. Über 130.000 Waisenkinder hat sie gerettet. Gegründet als direkte Reaktion auf den Völkermord von 1915, trat sie an, humanitäre Hilfe im großen Stil zu leisten. Schaffen konnte sie dies durch das Sammeln von Spenden in Amerika, um das Leid des armenischen Volkes zu lindern“, sagt er. 

Für einen landesweiten Spendenaufruf bediente sich die Hilfsorganisation der Massenmedien, was es so zuvor noch nie gegeben hatte. Auch setzte sie neben der Unterstützung durch einfache Bürger auf prominente Fürsprecher wie Kinderstar Jackie Coogan und Botschafter Henry Morgenthau. 

Das Ergebnis überraschte: Zwischen 1915 und 1930 sammelte die Hilfsorganisation 117 Millionen Dollar, was heute über zwei Milliarden entspricht. 

Eintausend Männer und Frauen versahen ihren Dienst in Übersee und tausende mehr zu Hause in Amerika. Die Hilfsorganisation baute hunderte von Waisenhäusern, Berufsschulen und Zentren für die Verteilung von Lebensmitteln. So rettete sie über einer Million Flüchtlinge das Leben. 2015 erwähnte Präsident Barack Obama die Stiftung für den Nahen Osten in seiner jährlichen Ansprache am 24. April und nannte sie „eine Wegbereiterin auf dem Gebiet internationaler humanitärer Hilfe“.

Als Fortsetzung der Wanderausstellung „Sie werden nicht umkommen“ gab Shant Mardirossian erst vor kurzem einen Dokumentarfilm in Auftrag und produziert ihn gleich selbst. Das Drehbuch schrieb George Billard, der auch Regie führte. Herauskommen wird das Werk voraussichtlich 2016. Als weitere Möglichkeit, den Menschen im Nahen Osten zu danken, die Armeniern vor hundert Jahren das Leben retteten, haben die Stiftung für den Nahen Osten und 100 LIVES unlängst ein achtjähriges Stipendienprogramm angekündigt, das einhundert gefährdeten Kindern aus der Region zugutekommen wird. Auch Mitgründer von 100 LIVES und Philanthrop Ruben Vardanyan hat einen Großvater, der von der Hilfsorganisation für den Nahen Osten gerettet wurde.

 

 

Vorstandsmitglieder und Freunde der Stiftung für den Nahen Osten im Viertel Kasatschi Post, Gyumri, Armenien. Im Hintergrund eines der ehemaligen Waisenhäuser.

Das Leben bringt einen immer wieder zu seinen Wurzeln zurück. Auf Shant Mardirossian trifft dies ganz besonders zu. Er fühlt sich berufen, denen zurückzugeben, die es verdienen. Da verwundert es nicht, dass er emotional wird, wenn er sich die Ironie der Geschichte vor Augen führt:

„Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der Enkel eines der Waisenkinder, die von der Hilfsorganisation für den Nahen Osten gerettet wurden, eines Tages zu ihrem Vorstandsvorsitzenden aufsteigen und sie durch ihr hundertjähriges Bestehen führen würde. Noch besser lässt sich wohl kaum verdeutlichen, was es für die nachfolgenden Generationen bedeuten kann, auch nur ein Leben zu retten“, sagt Shant Mardirossian.

Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.