„Mein Vater war ein schweigsamer Mensch. Ab und zu erzählte er uns von seiner Jugend. Er begann fröhlich über Details zu sprechen, dann versuchte er sich krampfhaft zu beherrschen, um nicht los zu weinen. Als Kind verstand ich, dass es da was Schlimmes passiert sein musste“, sagt Haig Dolabdjian. Was genau passiert war, erfährt er jedoch erst Jahre später.
Haig Dolabdjian ist Ingenieur und führt heute ein kleines Beratungsunternehmen in der Nähe von München. Er ist Mitte sechzig, von normaler Statur und hat blaue Augen. Seine Muttersprache ist Deutsch. Nichts an seinem Aussehen weist auf seine armenische Abstammung hin. Außer vielleicht das Funkeln in den Augen, das den meisten Armeniern so typisch ist, wenn sie begeistert über etwas reden. Haig Dolabdjian erzählt von seinen zahlreichen Reisen, zunächst nach Anatolien, zu der Geburtsstätte seines Vaters, dann nach Armenien. Die intensive Beschäftigung mit seiner Herkunft, mit dem Leben seines Vaters und die Suche nach der eigenen Identität finden sich in seinen Büchern „Mein Vater der Armenier“ und „Viele Grüße aus einer anderen Welt“ wieder.
Nach dem Tod seines Vaters fand er wichtige Notizen und Dokumente und konnte sein Leben aufgrund der Erzählungen rekonstruieren. „Die Dolabdjians müssen wohlhabende Kaufleute gewesen sein und waren eine große Familie. Mein Vater, Barkew kam 1904 in Kars-Bazar auf die Welt. Damals…“
Barkew Dolabdjian
…damals erinnerten sich viele Armenier an die Massaker der 1890er Jahre und die Angst vor der ungewissen Zukunft hatte ganz Ostanatolien ergriffen.
Das Leben von Barkew Dolabdjian
Es ist das Jahr 1908. Gegen die despotische Amtsführung Abdülhamids II. mobilisiert sich eine Oppositionsgruppe, die als „Jungtürken“ bekannt wird. Sie wollen im Osmanischen Reich ein Regierungssystem nach demokratischen Prinzipen einführen und sprechen sich für Mitbestimmungs- oder Autonomierechte der christlichen Minderheiten aus.
Viele Armenier erhoffen sich durch den Machtantritt der Jungtürken eine Verbesserung ihrer Lage und unterstützen sie tatkräftig. Doch sie setzen auf die falsche Karte.
Wie jedes Jahr fahren die Dolabdjians auch diesen Sommer nach Marasch, einer Provinz im Südosten Anatoliens. Als wohlhabende Kaufleute besitzen sie dort ein Haus mit einem schönen Hof. Der vierjährige Barkew ist überwältigt von Nurhak, dem größten Berg in Marasch. Mit einer Höhe von dreitausend Metern ragt er erhaben unter den zahlreichen anderen Bergen empor. Etwa die Hälfte der Provinz ist von den Ausläufern des Taurus-Gebirges durchzogen.
Barkew freut sich auf den Aufenthalt in Marasch, auf das leckere Pastirma (Rinder-Dörrfleisch), das sein Vater im Keller trocknet, auf Lokum (in Puderzucker gewälzte Süßigkeit), womit ihn seine Schwestern verwöhnen und auf Kebab, den die Väter im Hof grillen. In Marasch ist es kühl, anders als in Kars, wo die Sommerhitze unerträglich ist. Da die Familie seines Onkels Hagob mit seinen sieben Söhnen mitfährt, hat er genug Spielkameraden. Die neunzehn Jahre ältere Schwester Mary und die vierzehn Jahre ältere Schwester Osanna sind für ihn und die neunjährige Rosa die Hauptbezugspersonen. Ihre Mutter Dudu verstarb ein Jahr zuvor, nun versuchen Mary und Osanna so gut es geht für ihre kleinen Geschwister zu sorgen.
Der Vater Mowses hatte die beiden Töchter in kluger Weitsicht zu Krankenschwestern ausbilden lassen. Sie arbeiteten nun in einem deutschen Krankenhaus in Marasch, das zum Christlichen Hilfswerk für den Orient gehört.
Die Zukunft der Christen in Anatolien beherrscht die Gespräche bei den Dolabdjians. Jeden Abend lädt Mowses seine Brüder Howseb und Hagob und die Nachbarn zu sich ein, um mit ihnen über die politische Lage und die unterschiedlichen Programme der armenischen Parteien zu diskutieren.
Zwei deutsche Offiziere
Die Stadt Marasch, 1915. Deutsches Krankenhaus des Christlichen Hilfswerks für den Orient. Mary und Osanna umarmen Barkew, während die Tränen ihnen über die Wangen laufen. Mary dreht sich um und bedankt sich herzlich bei den beiden deutschen Offizieren, die ihren kleinen Bruder vor dem Tod in der Wüste bewahrt haben.
Im Mai 1915 hatte die jungtürkische Regierung ein Deportationsgesetz erlassen und damit faktisch die Massaker an den Armeniern legalisiert.
Hunderttausende Bewohner der armenischen Städte Sebastia (heute Sivas), Erzurum, Bitlis, Kharbed (heute Elazig), Diyarbekir, Marasch (heute Kahramanmarasch) und Ajntab (heute Gaziantep) werden im selben Jahr aufgefordert, ihr Hab und Gut zurückzulassen und der türkischen Armee in die Syrische Wüste zu folgen. Unter ihnen ist auch die Familie Dolabdjian. Barkew hält sich an seiner Schwester Rosa fest, die den Todesmarsch nicht überleben wird. Sie stirbt im Alter von 16 Jahren, nachdem sie in der Syrischen Wüste bei Aleppo ein Kind zur Welt gebracht hat. Sein Vater Mowses stirbt in der Nähe von Damaskus ohne ärztliche Hilfe im Alter von 52 Jahren. Hagob, der Bruder von Mowses, der sieben Söhne und eine Tochter hatte, kommt mit seiner Familie zwischen Euphrat und Tigris bei einem Massaker ums Leben.
Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts ist eingeleitet. Später werden die Geschichtsforscher die Zahl der getöteten Armenier auf anderthalb Millionen schätzen.
Mary und Osanna bleiben durch ihren deutschen Arbeitgeber von den Deportationen verschont.
Schule und Neuanfang, 1922
Die Schwestern schickten Barkew aus Sicherheitsgründen nach Syrien in ein Waisenhaus. Als junger Mann kommt Barkew 1921 erneut nach Istanbul zu seinen Schwestern. Seit den traumatischen Erlebnissen hat er nur ein Ziel vor Augen: Er will Arzt werden. Allerdings sieht er sich bald gezwungen die Türkei zu verlassen, diesmal endgültig. „Am 4. Dezember 1922 musste ich aus der Türkei wegen Gefahr für Leib und Leben flüchten und fand am 12. Dezember in Berlin Asyl“, wird Barkew als etablierter Arzt nach dreißig Jahren in einem seiner Notizbücher vermerken. Bis dahin muss er jedoch hart um diese Anerkennung kämpfen mit viel Geduld, starkem Willen und großem Durchhaltevermögen. Seit acht Jahren hat er keine Schule besucht, spricht kein Wort Deutsch und benötigt die deutsche Staatsangehörigkeit, um sich in Deutschland als Arzt niederlassen zu dürfen.
In den 20er Jahren hat die junge Weimarer Republik unter der Last der Reparationen und der Hyperinflation massiv zu leiden. Um die Staatsschulden zu bezahlen, weitet der Staat die Geldmenge aus und stürzt die deutsche Wirtschaft und das Bankensystem in den Ruin. Im Mai 1923 kostet ein Kilo Brot 474 Reichsmark und vier Monate später bereits 14 Millionen. Unter diesen Umständen ist Barkew auf die Unterstützung seiner Schwestern angewiesen, die ihm regelmäßig eine kleine Summe aus der Türkei überweisen.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin wird Barkew nach Echten-Hagen bei Freienwalde verlegt, wo er die Bekanntschaft mit der Familie Dobbeler macht. Sie nehmen Barkew von Dezember 1923 bis Ostern 1925 in ihre Obhut.
Die Familie Dobbeler und der erstaunliche Fleiß von Barkew
Bei der Familie Dobbeler kann sich Barkew gänzlich auf das Erlernen der deutschen Sprache und die Schule konzentrieren. Die ständige Lektüre hilft ihm aber vor allem, seine Erinnerungen zu verdrängen. Bis Pfingsten 1927 besucht Barkew als Gastschüler die Oberrealschule der Franckeschen Stiftungen zu Halle und wird noch im selben Jahr als Vollschüler auf die Oberschule in Halberstadt in die Unterprima geschickt. Im Februar 1929 macht er an dieser Schule Abitur. In seinen letzten Schuljahren wohnt er bei den Familien Otto und Stolte, die Barkew ins Herz geschloßen hat.
Mit 25 Jahren beginnt Barkew das Studium der Medizin an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Zunächst finanziert er es durch sein Einkommen als Werkstudent, anschließend durch ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung, das er aufgrund seiner hervorragenden Leistungen bekommt.
Barkews Studentenausweis
Erster Einbürgerungsantrag
Nach seiner Doktorprüfung im November 1936 stellt Barkew einen Antrag auf Einbürgerung. Die Bedingungen sind jedoch ungünstig. Die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre hat in Deutschland eine Massenarbeitslosigkeit zur Folge, antijüdische Stimmungen verbreiten sich rasant und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wird stärkste Partei im Lande.
Die Einbürgerungsbehörde tut sich schwer mit der Frage der arischen Herkunft eines Armeniers. Auch die politische Einstellung des Antragstellers ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Sie lehnt die Einbürgerung letztlich ab. Barkew beschließt, sich neben dem Facharzt für Chirurgie auch für den Facharzt für Gynäkologie zu qualifizieren. Gleichzeitig arbeitet er unentgeltlich an den Berliner Krankenhäusern. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er als Filmvorführer. Im Jahr 1939 muss Barkew jedoch auch seine ehrenamtliche Tätigkeit als Arzt aufgeben. Die Berliner Universitätsfrauenklinik entlässt ihn fristlos mit der Begründung, er sei staatsfeindlich.
Barkew 1936
Zweiter Einbürgerungsantrag
Barkew meldet sich zum Wehrdienst und hofft dadurch, seine Treue zum deutschen Vaterland genügend zum Ausdruck gebracht zu haben. Er ist inzwischen ein ausgebildeter Chirurg, der neben Türkisch, Armenisch und Arabisch spricht. Er lässt sich mustern und wird als kriegsverwendungsfähig eingestuft. Die Einbürgerung bleibt ihm dennoch verwehrt und damit der Traum, als Arzt zu arbeiten.
Im Laufe des Zweiten Weltkrieges entsteht zunehmend ein Mangel an Ärzten. Barkew wird im April 1940 notdienstverpflichtet.
Tuschin-Wald und Almut Fink
Das Frauenkrankenhaus in Tuschin bei Litzmannstadt ist überfüllt. Die Wehrmacht hat 1939 die polnische Stadt Tuschin besetzt und ein großes Umsiedlerlager der Volksdeutschen Mittelstelle (VOMI) errichtet. VOMI war eine Behörde des Deutschen Reiches, die die Umsiedlung der „Volksdeutschen“ aus den annektierten Grenzgebieten und alten deutschen Siedlungsgebieten im Osten wie der Bukowina organisierte.
Barkew arbeitet dort seit 1940 als hauptamtlicher Lagerarzt des Umsiedlergesundheitsdienstes und wird hoch geschätzt. Im Jahr 1944 erhält er für sein Engagement ein hervorragendes Dienstleistungszeugnis.
Im Laufe der Zeit entwickelt Barkew Gefühle für die 22-jährige leitende Krankenschwester Almut Fink. Sie treffen sich auch außerhalb der Arbeitszeiten und Barkew erzählt ihr viel von seiner Vergangenheit. „Seither interessierte ich mich sehr für die armenische Frage, egal was mir persönlich aus der ganzen Geschichte passierte“, erinnert sich Jahre später Almut Fink.
Im Frühjahr 1945 schaffen sie es, noch vor der Ankunft der Roten Armee aus Breslau herauszukommen. Im Mai desselben Jahres heiraten sie in Weimar. Durch die Heirat mit einem Staatenlosen verliert Almut ihre Staatsangehörigkeit. Das Paar bangt um seine Zukunft.
Sowjetische Truppen und Einbürgerung
Weimar, 2. Juli 1945. Mit gemischten Gefühlen beobachten die Einwohner Thüringens, Sachsens und Westmecklenburgs, wie die sowjetischen Truppen in die Städte Plauen, Erfurt, Weimar, Leipzig und Schwerin einmarschieren. Einen Tag zuvor haben die USA und Großbritannien ihre Truppen aus diesen Gebieten abgezogen, um sie der sowjetischen Militäradministration zu überlassen.
Im Dezember 1945 wird Barkew eingebürgert und damit auch Almut Fink. Gleichzeitig erhält Barkew die Approbation als Arzt und lässt sich als Facharzt für Chirurgie und Gynäkologie in Weimar nieder. Im September 1948 kommt ihr erster Sohn Barkew auf die Welt und zweieinhalb Jahre später ihr zweiter Sohn Haig. Die Dinge scheinen sich allmählich zu fügen.
Erneut auf der Flucht
Unter den sowjetischen Militärs gibt es armenische Offiziere, die am Namen „Dolabdjian“ ihren Landsmann identifizieren und mit Barkew Freundschaften schließen. An einem ihrer regelmäßigen Treffen warnen sie Barkew vor dem Vorhaben der sowjetischen Besatzung, ihn wegen akuten Ärztemangels in der Armenischen SSR dorthin zu versetzen. Die Dolabdjians können sich ein Leben im autoritär-kommunistischen Regime aber nicht vorstellen.
Am 10. Oktober 1951 verlassen sie Weimar, um in Berlin politisches Asyl zu suchen. Bei der Passkontrolle beschlagnahmt die Berliner Polizei ihre Pässe und bestreitet ihre Staatsbürgerschaft, die von der DDR-Behörde erteilt worden war. Die Dolabdjians sind erneut staatenlos und nirgendwo gern gesehen. Almuts Vetter, den sie in Oldenburg aufsuchen wollen, möchte ebenfalls mit ihnen nicht zu tun haben. Nach langem Hin und Her fliegen sie nach Hamburg zur Familie Stolte, die sie liebevoll aufnimmt.
Zehn Tage später erfahren sie, dass das Bundesministerium für Vertriebene in Bonn ihnen den Status als politische Flüchtlinge und damit auch ihre Staatsbürgerschaft anerkannt hat.
Pirmasens, die Endstation
Nach einer Odyssee durch diverse Flüchtlingslager werden die Dolabdjians in die Stadt Pirmasens in Rheinland-Pfalz geschickt. Nach einem halben Jahr unter widrigen Lebensumständen und mit zwei kleinen Kindern bekommen sie eine Wohnung, die zwar nicht ganz fertig, aber besser als ein Flüchtlingslager ist. Barkew, der zum damaligen Zeitpunkt noch nicht weiß, dass dieses Städtchen seine Heimat werden wird und die Bewohner ihnen wohlgesonnen sind, spart für den Fall der Fälle. Sie sollen nie wieder in Geldnot geraten.
Barkews Reputation als kompetenter Facharzt für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe spricht sich in der Gegend schnell herum und die Anzahl seiner Patientinnen wächst. Im Laufe der Zeit baut er seine Praxis aus und kümmert sich um die Schulleistungen seiner Kinder. Er fordert ihnen strenge Disziplin und großen Fleiß ab. Im März 1956 bekommen sie ihr drittes Kind, eine Tochter, die sie Almut nennen. Zwei Jahre später können sie sich auch ihr erstes Auto leisten, einen Opel Kapitän.
Barkew mit seiner Frau und den drei Kindern
Den Dolabdjians geht es zunehmend besser. Zumindest finanziell. Die Ehe leidet jedoch stark unter der konservativen Weltanschauung Barkews. Als er seiner Frau das Ausüben ihres Lehrerberufes offiziell verbietet, bringt das für sie das Fass zum überlaufen. 1968 reicht Almut die Scheidung ein. Ihre zwölf Jahre alte Tochter nimmt Almut mit. Die mittlerweile erwachsenen Söhne Barkew und Haig ziehen ebenfalls aus, um in größeren Städten zu studieren. Beide Söhne bringen es sehr weit in ihren Berufen.
Nach sieben Jahren des Alleinseins findet Barkew eine neue Lebensgefährtin und verbringt mit ihr seine letzten Lebensjahre. Er stirbt am 2. September 1999 im Alter von 94 Jahren ohne seine Schwestern Mary und Osanna noch einmal gesehen zu haben.
Barkew hinterlässt drei Kinder, acht Enkelkinder und ein Schließfach in der Bank gefüllt mit Hundertmarkscheinen. Vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg behandelte er als Arzt und Chirurg zahlreiche Verwundete und Kranke. Er half vielen Frauen zu entbinden und freute sich mit ihnen über den Anblick eines neu geborenen Kindes. Äußerlich erweckte er stets den Eindruck eines ruhigen Menschen, doch innere Ruhe fand er nie.
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.