Yetvart Tomasyan

Yetvart Tomasyan

Seit über zwanzig Jahren richtet sich das in Istanbul ansässige Verlagshaus Aras mit Veröffentlichungen über armenische Geschichte, Literatur und Kunst an die Menschen in der Türkei. Gegründet wurde es von Yetvart Tomasyan, der seinen ganz eigenen Weg gefunden hat, um mit dem Nachbar Armeniens in einen Dialog zu treten.
„Wenn die Menschen im Nachbarland unsere Literatur nicht lesen oder unsere Theaterstücke und Filme nicht verstehen können, müssen wir einen Weg finden, ihnen diese zugänglich zu machen, sodass sie Gelegenheit bekommen, uns besser zu begreifen, indem sie unsere Gedichte, Romane und Geschichten lesen und unsere Filme sehen“, sagt Yetvart Tomasyan.
 
Zur Welt kam der von Familie und engen Freunden Tomo genannte Literat und Verleger 1949 im Viertel Yedikule der türkischen Metropole Istanbul. Seine Familie stammte aus den Städten Çorlu und Tekirdağ, die beide im thrakischen, also dem europäischen Teil der heutigen Türkei liegen. Als junger Mann zog sein Großvater Lasarus der Arbeit wegen von Çorlu nach Konstantinopel. Einige Jahre danach eröffnete er ein Café, das er gemeinsam mit seiner Frau Taguhi und seinen Söhnen führte.
 
Yetvart Tomasyans Vater Petros kam 1908 in der Stadt am Bosporus zur Welt und war Juwelier. Durch ihr Leben in der Großstadt entgingen sie den großflächigen Deportationen und Massakern von 1915. „Nur die Eliten Konstantinopels fielen diesen zum Opfer, die einfachen Leute waren davon größtenteils nicht betroffen. Es waren Intellektuelle, Geistliche und andere Persönlichkeiten, die man deportierte und teils schon unterwegs umbrachte, während andere geschunden und erschöpft Zuflucht in Deir er-Zor und Aleppo fanden“, sagt Yetvart Tomasyan. Dennoch hinterließ der Völkermord auch in seiner Familie tiefe Spuren.
 
Ein Leben in Trauer
 
„Bevor Großvater Lasarus meine Großmutter ehelichte, war er mit einer Frau namens Sofik verheiratet. Sie hatten drei Kinder: Karpis, Aghavni und Martik, das Nesthäkchen. Sofik war wunderschön und hoch gewachsen, ihre blauen Augen funkelten. Sie erkrankte an Tuberkulose und starb“, erinnert sich Yetvart Tomasyan.
 
Der Witwer beschloss, sich erneut zu vermählen, damit seine Kinder gut versorgt seien. Seine Verwandten erzählten ihm von einer jungen Frau namens Taguhi aus Çorlu, die ein Kuppler aus der Familie zur Heirat mit Lasarus zu überreden suchte, indem er ihr eines der drei Kinder verschwieg. Als sie nach Konstantinopel kam und die Wahrheit herausfand, fühlte sie sich hintergangen und lehnte es ab, sich um das dritte Kind zu kümmern. Lasarus Eltern nahmen daher den kleinen Martik mit zurück nach Çorlu, um der jungen Familie eine Chance zu geben.
 
                               Die Kinder der Familie Tomasyan: Karpis, Aghavni, Petros und Sargis
 
Als 1915 die Deportationen begannen, mussten auch die Großeltern mit ihrem Enkel die Heimat verlassen. „Man schickte sie auf einen Marsch ins zentralanatolische Konya, von dem keiner jemals wieder zurückkehren sollte. Auch Martik blieb dieses Schicksal nicht erspart. Starb er? Ging er verloren? Wir wissen es nicht“, sagt Yetvart Tomasyan.
 
In den Jahren 1916 bis 1923 fanden viele Überlebende des Völkermordes Zuflucht in der armenischen Kirche und Schule in Samatya, einem Viertel der Hauptstadt Konstantinopel. Wann immer neue Menschen ankamen, hielt Taguhi Ausschau nach Martik, doch es sollte vergebens sein.
 

„Als die Regierung diese Zufluchtsstätte schloss und unsere Landsleute nicht mehr in die Türkei einreisen konnten, kleidete sich Taguhi in Schwarz. Bis zu ihrem Tod trug sie Trauer, denn sie war überzeugt, Martik sei tot oder für immer verloren, woran sie sich die Schuld gab“, erinnert sich Yetvart Tomasyan. „Sie litt wirklich sehr, so als wäre es ihr eigenes Kind gewesen.“

 
Auch Yetvart Tomasyan und seine Schwester, die armenisch-türkische Schriftstellerin Taguhi Tomasyan, versuchten lange, etwas über den Verbleib Martiks in Erfahrung zu bringen, doch ihre Suche blieb erfolglos.
 
                        Yetvart Tomasyans Großmutter Taguhi mit ihren Söhnen Petros und Sargis

 

Lasarus und Taguhi hatten zwei Kinder: Petros, den Vater Yetvarts, und Sargis. Als Anfang der Vierzigerjahre schrittweise eine Vermögenssteuer in der Türkei eingeführt wurde, verlor die Familie Haus und Hof. Während der Zweite Weltkrieg tobte, verlangte die türkische Regierung ihren Bürgern diesen Beitrag ab, doch zahlen mussten ihn vor allem die Minderheiten im Lande: Armenier, Griechen und Juden.

                           Yetvart Tomasyans Großmutter Taguhi mit ihren Enkelkindern
 
Yetvart Tomasyans Mutter Mary stammte auch aus Çorlu. Zur damaligen Zeit war es üblich, in der Stadt oder Region untereinander zu heiraten, da man dieselben Sitten pflegte, dieselbe Lebensweise hatte und dieselben Speisen aß. Als die Massaker begannen, blieben Marys Eltern Armash und Agapi verschont. Zu verdanken hatten sie dies dem Bürgermeister ihres damaligen Wohnortes Çatalca, der sich der Anordnung, armenische Handwerker zu deportieren, widersetzte. Den meisten ihrer Verwandten in Çorlu war jedoch ein solches Glück nicht beschieden. Nur wenige sollten zurückkehren.
 
Yetvart Tomasyan, der erste Sohn von Petros und Mary, widmete sein Leben der Bildung und der Literatur. Er besuchte die Hochschule der Unbefleckten Empfängnis der katholischen Schwestern in Samatya und zog dann in den Stadtteil Üsküdar, um dort an einem berühmten Seminar zu studieren. Danach schrieb er sich für klassische Sprachen an der Universität von Istanbul ein und lernte besonders Altarmenisch, auch Grabar genannt, um später die Sprache seiner Vorfahren an armenischen Schulen in der Stadt zu lehren. Dies blieb ihm jedoch verwehrt, da er aufgrund seiner politischen Einstellung und seiner linken Ideen keine Anstellung fand.
 
1971 heiratete Yetvart Tomasyan seine Kommilitonin Pailine, die er in der Studentenverbindung des Seminars kennengelernt hatte. Sie haben zwei Söhne, Mihran und Petros. Ersterer ist heute der künstlerische Leiter des bekannten Ensembles Ciplak ayaklar, was auf Deutsch Barfuß bedeutet.
 
                                      Yetvart Tomasyan mit seiner Mutter Mary
 
 
 
Nicht leichter gesagt
 
Nachdem er sich viele Jahre literarisch betätigt und für die armenische Zeitung Marmara in Istanbul gearbeitet hatte, gründete Yetvart Tomasyan 1993 gemeinsam mit seinen Freunden Hrant Dink sowie Mkrtich und Artashes Markossian das Verlagshaus Aras. „Die armenische Gemeinde machte harte Zeiten durch, ihre Stimme blieb ungehört. Die Menschen lebten zurückgezogen, Gehör konnten sie sich kaum verschaffen, auch wenn es manchmal brodelte. Doch was konnten wir tun? Schließlich sind wir nur wenige“, sagt Yetvart Tomasyan.
 
Die Freunde gründeten Aras mit dem Ziel, die armenische Gemeinde zu repräsentieren, das, was sie ausmacht, was sie erlebt hat und noch erleben wird. Den Menschen in der Türkei wollen sie so einen Zugang zu diesen Themen ermöglichen. Das Verlagshaus konzentriert sich dabei auf Bücher armenischer Schriftsteller, die ins Türkische übersetzt werden, auf solche, die von in der Türkei lebenden Armeniern in türkischer Sprache verfasst werden, und nicht zuletzt auf diejenigen ausländischer Schriftsteller, auch türkischen, die sich mit dem Thema Armenien beschäftigen. Es werden auch Bücher in armenischer Sprache verlegt: in den letzten dreiundzwanzig Jahren 170 an der Zahl.
 

„Unsere Arbeit ist keine leichte, weder moralisch noch körperlich. Ohne mit dem erhobenen Zeigefinger auf jemanden zu zeigen, versuchen wir, mit unserem Anliegen in die Öffentlichkeit zu gehen, einen Dialog mit ihr zu suchen. Nicht laut anklagend, sondern möglichst zurückhaltend. Doch die Qualität der Zurückhaltung unterzuordnen, das kommt für uns keinesfalls in Frage, denn wir wollen uns stetig verbessern“, sagt Yetvart Tomasyan.

 
Die von Aras verlegten Bücher wie auch die anderen Aktivitäten des Verlagshauses haben die Einstellung der Menschen in der Türkei gegenüber Armeniern und ihren Anliegen deutlich verändert, insbesondere die in intellektuellen Kreisen. „Mit unserer Arbeit wollen wir vor allem eine breite Öffentlichkeit erreichen, doch oft wissen auch Intellektuelle nicht um das, was uns bewegt. Wahrscheinlich haben wir die Türken wachgerüttelt, gar schockiert, indem wir das Thema Armenien offen diskutieren. Heute arbeiten viele daran mit, doch noch ist unser Werk nicht vollbracht“, glaubt Yetvart Tomasyan.
 
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.