Als sie gerade einmal 13 Jahre alt war, wurde Tabassum Adnan mit einem 30 Jahre älteren Mann zwangsverheiratet. Leider war ihr Fall keine Ausnahme, da Kinderheirat in der Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde, traditionell üblich war und immer noch ist. Mädchen werden zu einer frühen Heirat gezwungen und es wird erwartet, dass sie gehorsame Ehefrauen sind. Sie müssen diesen patriarchalischen Normen folgen – sonst riskieren sie ihr Leben.
Tabassum Adnans Ehe war geprägt von Leid, körperlicher und seelischer Misshandlung und endete nach 20 Jahren, als sie endlich den Mut aufbrachte, sich scheiden zu lassen und das trotz des Risikos, im Namen der Ehre getötet zu werden oder einer Affäre bezichtigt zu werden. Das war eine beängstigende Perspektive, aber Adnan raffte sich auf und war entschlossen, für sich und andere Frauen zu kämpfen.
„Ich war im Gericht wegen meines Falles, als dort eine Frau vor den Augen der Polizei niedergestochen und getötet wurde. Der Mann hat sich einfach ergeben und laut geschrien: ‚Ehre! Ehre!‘ Er wurde verhaftet und dann nach einiger Zeit wieder freigelassen“, erinnert sich Adnan. „Eine andere Frau wurde schwer verprügelt und der Täter kam nach einiger Zeit wieder frei. Ich kannte zwei Mädchen, die versucht hatten, für ihre Rechte zu kämpfen und Selbstmord begangen hatten. Ich glaube, sie wurden umgebracht, und um einen Rechtsstreit zu vermeiden, wurde es als Selbstmord hingestellt. Durch meine Situation und die der Frauen um mich herum war ich in einem traumatischen Zustand gefangen; das verfolgte mich, wohin ich auch ging.“
In dieser Zeit arbeitete Tabassum Adnan als Freiwillige für eine kleine Organisation, die Informationen aus Zeitungen sammelte. Schockierenderweise ging es in jedem fünften Artikel um Gewalt oder Mord an Frauen. Sie zählte 164 Selbstmorde von jungen Mädchen innerhalb nur eines Monats. Sie bohrte tiefer und fand heraus, dass 162 der 164 Fälle tatsächlich kaltblütige Morde im Namen der Ehre waren; 3 Morde geschahen wegen der Mitgift. Adnan ging den nächsten Schritt und gründete 2013 die erste Frauenversammlung, eine mit Frauen besetzte Jirga, in Pakistan.
Jirgas sind traditionelle inoffizielle Versammlungen, deren Entscheidungen gesellschaftlich respektiert werden und oft Einfluss auf die Justiz haben. Meistens fallen die Entscheidungen der Jirgas zum Nachteil der Frauen aus, ohne ihre Meinung zu berücksichtigen. Nicht selten werden Streitigkeiten zwischen Familien dadurch beigelegt, dass ein Mädchen weggegeben und mit einem älteren Mann aus dem anderen Clan verheiratet wird. Jedes Oberhaupt einer Jirga wird als „Mashra“ bezeichnet, was in der paschtunischen Sprache „Ältester“ oder „Anführer“ bedeutet, und so wurde Adnan die erste weibliche „Mashra“ einer Jirga in der paschtunischen Geschichte. Tabassum und ihre Khwedo Jirga (Schwesternrat) setzen sich für Frauen und Mädchen ein und versuchen, abscheuliche Taten und Verbrechen gegen Frauen zu stoppen.
„Wir haben ein breites Spektrum an Fällen, von Eigentumsstreitigkeiten bis zu häuslicher Gewalt, von Morden bis zu schweren Formen von Gewalt. Wir hatten einen Fall, in dem einer Frau von ihrem Mann die Nase abgehackt wurde, und mit der Hilfe unserer Jirga konnte der Täter hinter Gitter gebracht werden. Wir haben sie auch medizinisch unterstützt, damit sie mehrere Operationen durchführen lassen konnte. In einem anderen Fall hackte ein Ehemann das Bein seiner Frau ab. Wir haben ihn nicht nur ins Gefängnis gebracht, sondern auch erreicht, dass die Frau eine Entschädigung von 6 Millionen pakistanischen Rupien erhält“, so Tabassum Adnan.
Im Jahr 2014 wurde Adnan zum ersten Mal in der paschtunischen Geschichte gebeten, an einer männlichen Jirga teilzunehmen, was die öffentliche Wahrnehmung von Adnan und ihrer Arbeit nachhaltig veränderte. Das passierte, nachdem eine Minderjährige vergewaltigt wurde und die Behörden nicht handelten, woraufhin die Khwendo Jirga einen Protestmarsch organisierte. Am Ende wurden die Verdächtigen verhaftet. Nach diesem ersten Erfolg mit einer männlichen Jirga wurde Adnan eingeladen, auch an der Aufarbeitung anderer Fälle mitzuwirken. Die Khwendo Jirga selbst wurde von der Gesellschaft anerkannt, und die Frauen erkannten, dass sie sie bei ihren eigenen Anliegen um Hilfe bitten konnten. Im Laufe der Jahre hat Adnans Jirga 2.043 Fälle erfolgreich gelöst.
Die Khwendo Jirga war ein Leuchtfeuer für viele Frauen und sogar für Männer, die dort um Gerechtigkeit nachsuchten, was ein Meilenstein in der Geschichte Pakistans ist. Trotz persönlicher Gefahren zögert Adnan nie, für die Rechte aller Mitglieder ihrer Gemeinschaft einzutreten. Sie unterstützt sowohl Frauen als auch Männer und setzt sich für sexuelle, religiöse und alle anderen Minderheiten in ihrer Gesellschaft ein. Sie ist für jeden da, der in Schwierigkeiten steckt. Die weibliche Jirga in Pakistan war maßgeblich an der Schaffung von Streitschlichtungsräten (Dispute Resolution Council, DRC) an den Polizeidienststellen beteiligt. Dabei handelt es sich um eine alternative Streitbeilegungseinrichtung, der den Menschen kostenlose und schnelle Gerechtigkeit verschafft und den Frieden in der Gesellschaft aufrechterhält. Die Streitschlichtungsräte, die sogenannten staatlichen Jirgas, setzen sich aus Mitgliedern der Zivilgesellschaft zusammen, darunter mindestens eine oder zwei Frauen. Das ist ein weiterer bedeutender Fortschritt in einer patriarchalischen Gesellschaft, und das ist vor allem ein Verdienst von Tabassum Adnan und ihrer Jirga.
Als Frauenrechtlerin erhält Tabassum regelmäßig Morddrohungen und hat auch schon einen Attentatsversuch überlebt, bei dem eine Kugel ihren Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlte. Trotzdem setzt sie sich weiterhin für Gerechtigkeit für alle ein, insbesondere für Frauen: „Kinderehen sind jetzt rechtswidrig, und man kann dafür ins Gefängnis oder zu einer Geldstrafe verurteilt werden, aber es gibt immer noch Lücken im Gesetz, die beseitigt werden müssen. Aufgrund von COVID-19 gibt es einen Anstieg von Früh- und Zwangsehen und es muss mehr als je zuvor dagegen vorgegangen werden“, so Adnan auf die Frage nach den durch die Pandemie hervorgerufenen Schwierigkeiten. „Die häusliche Gewalt hat zugenommen, und weder kann ich sie [die Frauen] erreichen, noch können sie mich erreichen. Ich bete und hoffe, dass COVID-19 bald endet, oder wir alle immun dagegen sind.“
Tabassum Adnan ist dankbar für jedes einzelne Leben, das durch ihren Einsatz gerettet wurde, und für die Chance, dass Frauen nicht wie sie um ihre Mutterrolle gebracht werden müssen. Als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, konnte sie ihre vier Kinder nicht bei sich behalten und war gezwungen, sie bei ihrem Ex-Mann zu lassen. „Wenn eine Frau durch meine Bemühungen Gerechtigkeit erfährt, empfinde ich es so, als ob mir Gerechtigkeit widerfahren würde. Die Mutter in mir würde weinen und mir immer wieder sagen, dass sie ihre Kinder zurückhaben möchte. Ich würde sie beruhigen, indem ich ihr sage, dass wir eines Tages unsere Kinder zurückbekommen werden und dass ich das ‚patriarchalische System‘, das zwischen einer Mutter und ihren Kindern steht, niederschlagen werde. Ich habe der Mutter in mir versprochen, dass ich das Patriarchat in die Knie zwingen werde!“