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Nerses Ohanian

Nerses Ohanian

„Wer riskiert kann zwar verlieren, wer aber nicht riskiert, hat bereits verloren."
 

Die Ohanian-Brüder sind heute weltweit führend in der Vermarktung und Recycling von Alttextilien und geben diesen seit über 30 Jahren ein zweites Leben. Angefangen haben sie mit lediglich fünf Mitarbeitern. Während Nerses Ohanian sich auf die strategischen Wachstumsziele konzentrierte, erschloss Hagop Ohanian die erforderlichen Absatzmärkte. So wuchs das Unternehmen kontinuierlich und vermarktet heute Alttextilien in 90 Ländern.

 

                                      Die SOEX GROUP Sortieranlage in Wolfen, Deutschland

Bis zu 400 Tonnen Altkleider aus ganz Europa kommen täglich im deutschen Sortierwerk der SOEX GROUP täglich an. Allein in Deutschland kauft fast jeder Deutsche etwa 20 Kilo neue Textilien jährlich, die später in den Altkleider-Containern landen.  

Über das Unternehmen und dessen Nachhaltigkeitsphilosophie berichtete unter anderem auch das deutschlandweit bekannte Wissensmagazin Galileo. Mit einer eigens entwickelten Technologie soll die SOEX GROUP zum ersten Mal auch schwer verwertbare Schuhe recyceln. Das wäre revolutionär, schreibt Spiegel Online. In der Sortieranlage in Wolfen, einer Stadt in Sachsen-Anhalt, gibt sich die umweltbewusste Politprominenz die Klinke in die Hand. In 2012 gewann das Tochterunternehmen European Recycling Company den Silbernen Zero Waste Award.

 

 

                                               Sortierung im SOEX-Werk in Wolfen

Wie alles begann

Geführt wird das Unternehmen in Deutschland von Nerses Ohanian. Mit vierzehn Jahren kam er nach Deutschland, um seinem Vater zu helfen. „Wir haben schwierige Zeiten durchgemacht. Als der Bürgerkrieg in Syrien losging, haben wir alles verloren und uns zudem stark verschuldet. Ich ging damals in die Schule. Oft hatten wir nichts zu essen. Es wurde mir klar, dass ich als ältester Sohn etwas unternehmen muss.“ Er hatte kein Geld und beherrschte die deutsche Sprache nicht, aber er wusste, dass er um jeden Preis seiner Familie ein besseres Leben ermöglichen muss.

Geboren wurde Nerses Ohanian in Syrien. 

 

 

                                                 Der SOEX GROUP Gründer Souren Ohanian

Sein Vater Souren Ohanian handelte damals mit Autos und Autoteilen. Er kaufte sie entweder in Deutschland oder in den USA und verkaufte sie in seinem Heimatland Syrien. „Schon beim ersten Besuch mochte ich Deutschland. Mir sagten die Regeln, die Ordnung und die Sauberkeit sehr zu!“, erinnert sich Souren Ohanian.

1977 gründete Souren Ohanian in Deutschland das Unternehmen SOEX GROUP. Sohn und Vater arbeiteten bis zu 14 Stunden am Tag, während die Familie weit weg in Syrien lebte. Nach drei Jahren stabilisierte sich ihre finanzielle Situation und die Familie folgte ihnen nach Deutschland.

 

 

                             Souren Ohanian (in der Mitte) kurz nach der Ankunft in Deutschland. 

 

Doch der Weg zum Erfolg war holprig. Immer wieder wurden sie von jenen, denen sie vertraut hatten, hintergangen und betrogen. Als die Firma einen Jahresumsatz von zwei Millionen Mark erwirtschaftete, wurden sie von einem Geschäftspartner um den Gewinn gebracht. „Ich sah, wie erschüttert mein Vater davon war. Ich sagte: ‚Papa, mach dir gar keine Sorgen. Ich werde das wieder zurechtbiegen!‘“ 

 

                                                             Sortieranlage in Wolfen

Nerses Ohanian hatte einen Plan. Er richtete sein Augenmerk auf die großen Firmen in der Entsorgungsbranche. „Damals gab es in Hamburg zwei Altkleidersammler: Melosch, das mit Axel Springer einen Entsorgungsvertrag hatte und eine andere Firma, deren Geschäftsführer ein guter, seriöser Geschäftsmann war. Ich ging zu ihm und sagte: ‚Herr Jörg, mein Name ist Nerses Ohanian. Ich habe kein Geld. Wenn sie mir Ware und einen Kredit geben, kriegen Sie das Geld wieder.‘ Ich weiß noch genau. Er sah mich an, griff zum Telefon und sagte: ‚Schicken Sie die gesamte Ware‘. Gesamte! Das waren 600 bis 700 Tonnen. Er gab mitr 400.000 Mark Kredit. Er hat mir einfach vertraut.“ 

 

                                                                  Anlage in Wolfen

 

Nerses Ohanian erzählt die Geschichte, als wäre sie gestern passiert. Heute ist der erfolgreiche Geschäftsmann Mitte Fünfzig. Er wirkt authentisch, leidenschaftlich und voller Lebensenergie. Es muss seine charismatische Ausstrahlung gewesen sein, die ihm den Weg nach oben ebnete. Das Unternehmen wächst seitdem stetig erfolgreich weiter. 1995 übergab Souren Ohanian das Ruder an seine Söhne Nerses und Hagop.  

 

                                          Nerses Ohanians Bruder und Geschäftspartner Hagop Ohanian

 

Vor einhundert Jahren stand die Familie Ohanian jedoch vor ganz anderen, vor existenziellen Herausforderungen. Die Katastrophe von 1915 ereilte auch diese Familie. „Mein Vater verlor seine Familie und Freunde, nahezu auch sein eigenes Leben“, erzählt der Gründer der Firma, Souren Ohanian, der seinem ältesten Sohn den Namen des eigenen Vaters gab. 

Wenn man seinem Vater Nerses Ohanian damals gesagt hätte, dass er den Genozid an den Armeniern überleben werde, und seine Nachfahren ein Altkleider-Recycling-Imperium aufbauen würden, hätte er dem wohl kaum Glauben geschenkt.  

 

 

Souren Ohanian (oben links) und sein Vater Nerses Ohanian (unten rechts) mit ihren Familienmitgliedern Eglantine, Hagop, Arousiak und Silvart.

Als im November 1914 die osmanische Regierung der Triple Entente den Krieg erklärt, muss der Vater als Zwangssoldat der osmanischen Armee gegen die Engländer in der Schlacht von Gallipoli kämpfen. Er wird im Kampf durch drei Kugeln am Bein verletzt und ins Krankenhaus gebracht. „Als er aus dem Krankenhaus entlassen wird und zurück an die Front soll, sind alle seine Kameraden bereits im Krieg gefallen“, erzählt Souren Ohanian. „Mein Vater Nerses Ohanian eilt in sein Heimatdorf Hromkla, um die Verwandtschaft über den Fluss Euphrat in Sicherheit zu bringen.“ In dem kleinen Dorf, von dem heute nur noch eine Burgruine übrig ist und Rum Kalesi genannt wird, leben im Jahr 1915 etwa 40 armenische Familien. 

 

Heute ist das Dorf Hromkla, auch  Rum Kalesi genannt, eine Burgruine. Foto von Phil Sapirsteing, Flickr.

Nerses Ohanian mietet sich zwei große Boote mit jeweils zwei Bootsführern. „In den beiden Booten hätten leicht mehrere Familien Platz gefunden“, so Souren Ohanian. „Er wollte so viele Menschen wie nur möglich aus dem Dorf retten und riskierte dabei sein eigenes Leben.“ 

Nerses Ohanian rudert mit seinem kleinen Boot zum Dorf und wartet an einem verabredeten Ort auf seine Familienmitglieder, die sich ihm auf den Booten anschließen sollten. Doch die Boote kommen nicht. „Sie müssen von türkischen Bewachern aufgehalten und zurückgeschickt worden sein. Der einzige Grund, warum mein Vater überhaupt mit dem Boot zum Dorf fahren konnte, war seine osmanische Soldatenuniform“, erklärt sein Sohn.  

Die prekäre Lage zwingt ihn schnell zu handeln. 

Auf dem kleinen Boot hat Nerses Ohanian nur einen Platz und schafft es, seinen kleinen Cousin Hagop Tcherjian mitzunehmen. 

Als sie sich später in Sicherheit wissen, hören sie, dass die ganze Stadt abgebrannt, geplündert und alle Menschen massakriert wurden. „Mein Vater sah seine Familie nie wieder.“ 

Die Katastrophe und die Zwangsarbeit

Die Lage für die Armenier verschlechtert sich von Tag zu Tag. Einige Monate nach der Schlacht von Gallipoli, im Winter 1915, wurden die armenischen Kameraden in der osmanischen Armee entwaffnet und als Landesverräter hingerichtet. Es beginnt eine Jagd auf die armenische Elite in ganz Anatolien. Man verschleppt und tötet sie. Auch großflächige Deportationen der Armenier aus dem Armenischen Hochland gehören zur Tagesordnung. Armenische Männer, Frauen und Kinder werden zu Todesmärschen in die Syrische Wüste gezwungen und systematisch massakriert. 

Die am Leben gebliebenen Armenier werden zur Zwangsarbeit am Bau der Bagdagbahn getrieben. So auch Nerses Ohanian. „Die Arbeit ist so hart, dass die langsame und systematische Vernichtung der Arbeiter vorbestimmt ist. Mein Vater muss bei starker Hitze schuften und das über mehrere Jahre“, erzählt der Gründer der SOEX GROUP. 

Birecik und sein Freund Ali 

Auch wenn Nerses Ohanian im Alter von 24 Jahren viel Elend und Leid erlebt hat, verliert er nie seinen Optimismus und seine Großherzigkeit. „Mein Vater war ein herzensguter Mensch, ein Mann von Ehre. Er hat sein Hab und Gut mit jedem geteilt. Er mochte alle Menschen, egal welcher Nationalität oder Religion. Er sagte immer: ‚Gute Menschen gibt es überall!‘“ Und Nerses Ohanian irrte sich nicht. In Birecik, einer Stadt im Südosten der Türkei, nahe der Grenze zu Syrien, begegnet er zufällig einem Kurden namens Ali, mit dem er in der Kohleproduktion arbeitet. „Beide hatten die Eigenschaft, Menschen nicht nach ihrer Religion zu beurteilen. Sie haben sich gut ergänzt. Ali hat die Kohle vorbereitet und mein Vater hat für den Transport gesorgt. Sie waren ein gut eingespieltes Team.“ 

Durch die Arbeit sind sie viel unterwegs und arbeiten in verschiedenen Orten. Obwohl der Genozid an den Armeniern einige Zeit zurückliegt, werden die Armenier in der Türkei weiterhin verfolgt: „In dieser Zeit versuchen ihn die Türken mehrmals umzubringen. Aber Ali behauptet jedes Mal, mein Vater sei Kurde und heiße Djuma“, erzählt Souren Ohanian.  

„Mein Vater hat uns später oft von Ali erzählt. Er sagte, Ali sei ein sehr guter, vertrauensvoller und fairer Mensch gewesen. Er war ihm unheimlich dankbar.“

In den 20er-Jahren erreicht Nerses Ohanian die Stadt Dscharābulus und später Aleppo, wo er sich mit seiner Frau Arousiak Kethcejian und vier Kindern niederlässt. Er arbeitet in der Landwirtschaft für ein französisches Unternehmen. „Ab und zu erzählte uns mein Vater aus seinem Leben, und wenn er das tat, begann er seine Geschichte stets mit den Worten: ‚Abgefeuerte Kugeln beenden Menschenleben. Mir haben sie mein Leben erhalten.‘“ Nerses Ohanian wurde 103 Jahre alt. „Ich habe meinen ältesten Sohn Nerses nach meinem Vater benannt, und es ist nicht nur der Name, den sie gemeinsam haben“, sagt Souren Ohanian „Es sind vor allem ihre Charakterzüge.“ 

 

                               Souren Ohanian als Kind mit seiner Mutter und Schwester in Aleppo, Syrien.

Neben der SOEX GROUP, die heute 2000 Mitarbeiter weltweit zählt und Niederlassungen auf sechs Kontinenten hat, gründete Nerses Ohanian vor sieben Jahren ein weiteres Unternehmen, I:Collect (I:CO). Als Wegbereiter und Vordenker der Kreislaufwirtschaft erhielt I:CO in New York den Cradle to Cradle Systems Innovator Award. Inzwischen kooperiert es mit über 60 Handelspartnern weltweit, unter anderem mit H&M, PUMA, North Face und Levi´s. „Die Idee besteht darin, dass die Käufer für ihre getragene Kleidung Gutscheine erhalten, wenn sie die Kleidung in die Läden zurückbringen, in denen sie diese erworben haben. So werden ausgediente Textilien und Schuhe gesammelt und wertvolle Rohstoffe wiederverwertet“, erklärt Nerses Ohanian.  

 

 

                                   SOEX GROUP. Deutscher Firmenhauptsitz in Sachsen-Anhalt

Aus seinem geräumigen Büro mit großen breiten Fenstern sieht man das Gelände, wo täglich etwa 30 Lastwagen die Altkleider anliefern. Während sein Blick über die Anlagen in Wolfen schweift, sagt Nerses Ohanian: „Wenn du erfolgreich sein willst, musst du risikobereit sein. Wer riskiert, kann zwar verlieren. Wer aber nicht riskiert, hat bereits verloren.“ 

Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.