Sergey und Lusine Khachatryan

Sergey und Lusine Khachatryan

„Wenn unser Urgroßvater Daniel den Völkermord nicht überlebt hätte, gäbe es uns heute nicht. Sein Überleben machte uns erst möglich“, sagt der berühmte Violinist Sergey Khachatryan.
Daniel Khachatryan, der Urgroßvater von Sergey Khachatryan und seiner Schwester Lusine, kam in Kars zur Welt. Seine Urenkel wissen nur wenig über ihn, denn er starb, als sie noch sehr klein waren. Auch hatte er nie viel vom Überleben und dem Verlust der Heimat mit seinem Sohn Sergey, dem Großvater der beiden, gesprochen.
                                    Daniel Khachatryan, der Urgroßvater von Sergey und Lusine Khachatryan.
 
 
Viel weiß die Familie nicht über den Urgroßvater. Er war eines von neun Kindern, hatte sechs Brüder und zwei Schwestern. Die Khachatryans besaßen Weizenfelder und eine Bäckerei in Kars. Wenn sich Sergey und Lusine die verlorene Heimat des Urgroßvaters vorstellen, sehen sie ausgedehnte goldene Weizenfelder und die Großfamilie, wie sie sich friedlich um den Tonir, den landestypischen Backofen, versammelt. Der Duft von frisch gebackenem Brot liegt in der Luft. Die Khachatryans verteidigten sich gegen die türkischen Angreifer, doch nur zwei Kinder überlebten die Massaker: Daniel und sein Bruder Grigor. Sie flohen nach Gyumri. Während Daniel dort blieb, machte sich sein Bruder auf den Weg nach Tiflis, wo sich seine Spur verliert.
 
Nachdem etwas Zeit vergangen war, zog Daniel nach Jerewan und ließ sich im Stadtteil Kond nieder. Sein einziges Kind Sergey starb 2014. Dieser hatte drei Söhne: Wladimir, Artasches und Daniel. Wladimir hat auch nur einen Sohn, den bekannten Violinisten Sergey Khachatryan. Er ist der einzige männliche Nachkomme von Urgroßvater Daniel. 
 
                                                               Sergey und Lusine Khachatryan
                                                                      Foto: Marco Borggreve
 
Der Kampf ums wahre Selbst
 
Der Violinist Sergey Khachatryan und seine Schwester, die ebenfalls bekannte Pianistin Lusine Khachatryan, leben seit 22 Jahren mit ihrer Familie in Deutschland. Sie sind ihren Eltern dankbar, die ihr Bestes taten, um ihre Kultur in einem fremden Land zu bewahren. „Heute wissen wir zu schätzen, wie viel Großartiges sie für uns getan haben. Wir sind in Deutschland aufgewachsen, doch unsere Heimat ist Armenien. Zu Hause durften wir kein Deutsch sprechen und bewahrten so unsere Muttersprache, der wichtigste Baustein unserer Identität“, sagt Lusine.
 
Sergey glaubt, dass Menschen, die im Ausland leben, sich der Frage nach der eigenen Identität wesentlich bewusster sind und auch im Allgemeinen aufgeschlossener für dieses Thema sind. Oft denken sie darüber nach, wer sie sind und woher sie kommen. „Du weißt, du lebst nicht in der eigentlich für dich vorgesehenen Umgebung. Du spürst die Mentalitätsunterschiede. Du wirst gehemmt und beginnst, das die eigene Identität Ausmachende zu erkennen und wertzuschätzen. Unsere Familie hatte damit zum Glück nie große Schwierigkeiten, denn wir hatten die Essenz dessen, was uns ausmacht, bestmöglich bewahrt: das Nationalgefühl, die Tradition, die uns eigene Weltsicht. Wir versuchten nicht, so zu sein wie andere, und blieben uns selbst treu.“ Die jüngeren Familienmitglieder bei den Khachatryans sind bestrebt, ihre Identität zu bewahren, auch weil sie so wenig über ihre Vorfahren wissen. Auf diese Weise gedenken sie in dankbarer Erinnerung an ihren Urgroßvater Daniel.
                                          Daniel Khachatryan und sein Bruder Grigor (rechts)
 
Durch die Musik sprechen  
 
Der einhundertste Völkermordgedenktag ist ein besonderer Tag für Sergey und Lusine. Dies hängt nicht nur zusammen mit ihrer Arbeit, sondern auch ihrem Verantwortungsgefühl. Die zahlreichen Konzerte, die sie auf den großen Bühnen der Welt in Köln, Wien, Amsterdam, St. Petersburg, London und San Francisco gegeben haben, ihre Gruppen- und Einzelprojekte, alle Veranstaltungen dienten einem gemeinsamen Ziel, nämlich durch die Musik zu sprechen. Durch sie kundzutun, dass das Volk, dem man seine Heimat mit Gewalt genommen, das man Massakern und Deportationen ausgesetzt hatte, dass dieses Volk auch 100 Jahre danach noch lebt und Großes vollbringt, seine jahrtausendalte Kultur bewahrt und sich der Welt in seiner Muttersprache mitteilt“, sagt Lusine.

 

                                    Sergey Khachatryan beim Weltkonzert „24. April“ 2015 in Jerewan.                          
 

Während der Konzertreihe spielten die Geschwister Sergey und Lusine Khachatryan gemeinsam mit dem Cellisten Narek Hahknazaryan neben Beethoven und Rachmaninow auch den „Siebten Tanz“ von Komitas und „Trio“ von Babadschanjan. Lusine sprach von der Bühne: „Der zweite Teil unseres Konzertes ist dem 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern gewidmet […]. Ich fordere euch auf, zu Mitstreitern zu werden im Kampf um die Anerkennung des Verbrechens als Völkermord, damit es niemals zu einer Wiederholung kommt, gerade jetzt, wo in unserer Zeit so viele grauenhafte Dinge vor unser aller Augen geschehen. Zum Schluss möchte ich sagen, dass es unsere Kultur ist, die uns reich macht, und wir es Menschen wie Komitas verdanken, dass es uns heute gibt. Solange wir unsere Kultur bewahren, kann man uns nie auslöschen.“      

 

                               Lusine Khachatryan während der Klavierdarbietung „Nostalgie“.                                              
 
Das Konzert in Köln wurde im Lokalradio übertragen. Gleich im Anschluss riefen mehrere Zuhörer an, um sich bei den Künstlern zu bedanken, nicht nur für die Musik, sondern auch für die Worte. „Man sollte jederzeit den Mut, den richtigen Weg und die richtige Zeit finden, schwierige Themen anzusprechen“, glaubt Sergey.
 
Mitten in der Nostalgie
 
Sergey und Lusine arbeiten zurzeit an einem neuen Album mit dem Titel „Mein Armenien“, auf dem nur armenische Musik zu hören sein wird. Widmen werden es die Geschwister dem 100. Jahrestag des Völkermordes. „Auf unseren Konzerten rührt das Stück ‚Krounk (Kranich)‘ von Komitas die Nicht-Armenier am meisten. Es spielt keine Rolle, was du vor ‚Krounk‘ gespielt hast, alle vergessen sie deine vorherigen Darbietungen, wie gut sie auch gewesen sein mögen. ‚Krounk‘ verstört die Menschen, es erschüttert sie in ihrem tiefsten Inneren, welcher Nationalität sie auch immer sein mögen“, merkt Sergey an.

 

                                     
                 
           Eine Hörprobe aus Lusine Khachatryans Klavierdarbietung „Nostalgie”.                                               
 
„Ich war sprachlos. Nachdem ‚Krounk‘ im Radio gespielt worden war, riefen unglaublich viele Menschen an und baten mich um die Noten“, fügt Lusine hinzu.
 
Neben der Veröffentlichung ihres Albums „Mein Armenien“ ist den Geschwistern Khachatryan in diesem Jahr ein weiteres einzigartiges Projekt gelungen: Sie haben Klavier- und Theaterdarbietung zu einem Gesamtkunstwerk verbunden. Herausgekommen ist ein unerwartet mystisches Werk, das den Titel „Nostalgie“ trägt. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander durch Musik, Schauspiel und Video, während Lusine auf der Bühne Schauspielerin und Pianistin zugleich ist. Sergey ist der Produzent und hat seiner Schwester auch bei den bewegten Bildern geholfen. „Nostalgie“ feierte am 5. September im Hamazgayin-Nationaltheater in Jerewan Premiere.
 
Während der Aufführung sieht man Bilder einer Kirche, die scheinbar wiederaufgebaut wird. „Für dieses Projekt begaben wir uns auf eine virtuelle Reise durch unsere Heimat. Wir durchlebten sehr schwierige und emotionale Momente, in unseren Gedanken sprachen wir die ganze Zeit mit unserem Urgroßvater Daniel“, sagt Lusine und fügt hinzu, sie habe beim Betrachten der Ruinen armenischer Kirchen tiefen Schmerz über den Verlust empfunden.

 

                                                Sergey und Lusine Khachatryan.
                                                                     Foto: Marco Borggreve

 

Sergey und Lusine haben noch nie die Türkei besucht und schon zahlreiche Angebote für Auftritte dort ausgeschlagen. „Zum ersten Mal möchte ich das alles jetzt mit meinen eigenen Augen sehen, die Dinge berühren, auf den Straßen der verlorenen Heimat meines Urgroßvaters wandeln, die zu Ruinen zerfallenen Kirchen besichtigen, die nur auf ihren Wiederaufbau zu warten scheinen. Deswegen habe ich versucht, sie in meiner Darbietung wieder zum Leben zu erwecken“, sagt Lusine.

 
Die Geschwister Khachatryan sind der festen Überzeugung, dass die Armenier nicht geschlagen sind. „Bei all den Konzerten und Projekten ist für uns nicht der tragische Aspekt am wichtigsten, sondern vielmehr die Tatsache, dass es uns trotz dieser schrecklichen Ereignisse noch gibt und wir auch weiterhin einen starken Schaffensdrang haben. Das ist der Kern der Botschaft“, sagt Sergey.   
 
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES. 
 
Titelbild von Marco Borggreve.