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Anita Vogel

Anita Vogel

„Ich halte es oft für ein Wunder, dass es mich heute gibt. Ohne die Beharrlichkeit meines Urgroßvaters und seinen Überlebenswillen, ohne die vielen Türken, die meiner Großmutter bei ihrer Flucht halfen, ohne das hätte meine Familie nie überlebt.“
 

Anita Vogel ist eine hochgeschätzte Korrespondentin beim amerikanischen Nachrichtensender FOX. Dort arbeitet sie seit 2001 und pendelt seitdem zwischen Los Angeles und New York City. Im Laufe ihrer Karriere ist sie mehrfach ausgezeichnet worden: Sie erhielt den Rundfunk- und Fernsehpreis der Pennsylvania Association of Broadcasters in der Kategorie „Beste Dokumentation“, den Edward R. Murrow-Preis und einen Regional-Emmy in der Kategorie „Beste Nachrichtensendung“. Besonders hervorzuheben ist die Auszeichnung mit dem goldenen Mikrofon in der Kategorie „Beste Sonderberichterstattung“ für ihr Interview mit dem ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten Bill Clinton während der Vorwahlen im Bundesstaat Nevada. „Ich weiß nicht, ob ich jemals ein spannenderes Interview führen werde“, sagt Vogel.

 

Anita Vogel interviewt den Dalai Lama. 

Beachtenswert sind auch Vogels Berichterstattung über den mexikanischen Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2006 und ihre Live-Reportagen aus New Orleans, nachdem Hurrikan Katrina im Jahr 2005 über die Stadt gefegt war. Vogel berichtete in den zwei Wochen nach Katrina über die Folgen der Katastrophe. „Katrina war gewaltig […], die Lage danach war das Schlimmste, was ich je mitansehen musste: Von keiner Story war ich mehr betroffen als von dieser. Ich konnte einfach nicht glauben, was sich da in den Vereinigten Staaten abspielte“, erinnert sie sich.

Vogel schloss ihr Studium in Fernseh- und Rundfunkjournalismus sowie Politikwissenschaften an der Universität von Südkalifornien als Bachelor of Arts ab. Im Jahr 1992 wurde sie Ko-Moderatorin bei ABC News in Washington. Seit damals ging es mit ihrer beruflichen Karriere steil bergauf. Sie schaffte es bis an die Spitze. 

 

„Konvertiere oder stirb“

Anita Vogels Vater stammt aus Osteuropa, ihre Mutter aus Armenien. Obwohl sie sich in erster Linie als Amerikanerin sieht, nimmt sie ihr armenisches Erbe gerne an und ist stolz darauf, zusammen mit ihrem Bruder Mark eine armenische Erziehung genossen zu haben. Vogel ist verheiratet mit Mark Rozells, dem Finanzvorstand der Raffles International-Hotelkette. Gemeinsam haben sie eine zweijährige Tochter mit Namen Evangeline.

 

 

Anita Vogel mit Ehemann Mark Rozells und Tochter Evangeline Rozells. 

Mütterlicherseits ist die Familiengeschichte von Anita Vogel ein anschauliches Beispiel für das, was man heute als „konvertierte Armenier“ bezeichnet. Noch während des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich und auch danach – oft waren die Männer bereits von den Familien getrennt und getötet worden – bot man Frauen und Kindern an, zum Islam zu konvertieren, um so der Hinrichtung zu entgehen. Einige wurden zwangskonvertiert, obwohl sie Christen bleiben wollten. Andere hingegen, darunter Vogels Familie, konvertierten nur zum Schein. Letztere nannte man „Krypto-Armenier“ oder „heimliche Armenier“, von denen manche das Christentum noch auf die eine oder andere Weise praktizieren. Die Schätzungen, wie viele heimliche oder konvertierte Armenier es gibt, gehen weit auseinander. In einigen Quellen ist von gerade einmal 30.000 die Rede, in anderen gar von fünf Millionen. Seit geraumer Zeit geben immer mehr dieser Armenier ihr wahres Selbst preis, besonders in ehemals westarmenischen Städten wie Dersim in der heute ostanatolischen Provinz Tunceli und Diyarbakir, aber auch in Hemschin, Malatya, Sivas, Van, Kayseri, Elazig und Musch. 

Vogel erfuhr von der Geschichte ihrer eigenen Familie durch ihre Großmutter Sarah Bedrosian, geborene Agzarian, die zur Zeit des Völkermordes elf Jahre alt war. „Meine Großmutter sprach oft vom Völkermord, bevor sie 1999 im Alter von 94 Jahren starb.

Sie erzählte in allen schrecklichen Details, wie ihre Familie Hunger litt und einer nach dem anderen dahinsiechte.

Sie sagte, während des Völkermordes habe man die Menschen in ihrem Dorf vor die Wahl gestellt, zum Islam zu konvertieren oder zu sterben“, erinnert sich Vogel.

Von Evereg in die Bronx: eine Geschichte von Religion, Einfallsreichtum und Überleben

Sarah lebte zusammen mit ihren Eltern Agzar und Mariam Agzarian sowie ihren Geschwistern Rose, Guily und John in einem kleinen Dorf in der Zentraltürkei, unweit der Stadt Kayseri. „Früher hieß es Evereg-Fenesse, aber heute heißt es wohl Develi“, sagt Vogel. Als 1915 die Massendeportationen und -tötungen von Armeniern im ganzen Osmanischen Reich begannen, kamen türkische Soldaten in das Dorf und gaben den Bewohnern die Gelegenheit, zum Islam zu konvertieren. Während Vogels Urgroßvater Agzar sofort erkannte, dass Einwilligen die einzig richtig Entscheidung war, um dem sicheren Tod zu entgehen, kam das für ihre Urgroßmutter, eine durch und durch fromme Christin, nicht in Frage. „Meine Urgroßmutter war so religiös“, erklärt Vogel, „dass sie beim Beten ein Licht am Himmel sah.“ Mariam tat sich mit dem Gedanken an ein Konvertieren extrem schwer. Sie verlor die Selbstbeherrschung und rannte schreiend durch die Straßen des Dorfes. Agzar gelang es, sie zurück ins Haus zu bringen und ihr den Ernst der Lage klarzumachen: „Bist du verrückt? Hast du eine Ahnung, was geschehen wird, wenn wir nicht wenigstens so tun, als würden wir zum Islam konvertieren? Sie werden uns alle töten.“ So gab die Familie widerstrebend vor, muslimisch zu sein, während sie die Flucht nach Amerika plante.

 

 

Guily, die Schwester von Anitas Großmutter, die einen türkischen Soldaten heiratete, mit ihrem Enkelsohn Yasar.

Erst die Hilfsbereitschaft von Fremden machte ein Überleben möglich

„Mein Großonkel John verließ als einer der ersten aus der Familie das Osmanische Reich und kam in die Vereinigten Staaten. Nachdem etwas Zeit vergangen war, traf er Vorkehrungen, damit zwei seiner Schwestern, Sarah und Rose, nach Kuba fliehen konnten. Hilfe bekam er von ehemaligen Dorfbewohnern aus Evereg, die auch in den Vereinigten Staaten lebten. Die jüngste Schwester, Guily, heiratete während der schrecklichen Ereignisse einen türkischen Soldaten und blieb im Land. Ihr Mann und sie bekamen mehrere Kinder. Meine Cousins und ich stehen miteinander in Kontakt. So kommt es, dass ich Familie in der Türkei habe. Sie alle sind liberal eingestellt, gut ausgebildet und erfolgreich im Beruf; und sie kennen ihre Wurzeln. Ich habe sie in der Türkei besucht und sie mich hier in Amerika. Guily hatte ihren Namen in Fatima geändert“, erklärt Vogel.

 

 

Anita Vogel, ihre Mutter und ihre türkischen Verwandten auf einer Hochzeitsfeier. 

Auf ihrem langen und beschwerlichen Weg, der sie schließlich nach Amerika führte, trafen Sarah und Rose auf viele hilfsbereite Fremde. Ohne den türkischen Soldaten, der Guily geheiratet hatte, hätten die Schwestern in der Türkei vielleicht nicht überlebt. Wir wissen zwar nicht, ob Guily ihren Ehemann aus freien Stücken heiratete oder man sie entführte und dazu zwang, doch sie wurde wohl – wie auch immer es sich zugetragen haben mag – gut behandelt und blühte letztlich auf. Hätte es nicht noch eine Reihe anderer Türken gegeben, deren Namen Vogel nicht kennt, wären die jungen Frauen nicht aus der Türkei herausgekommen und hätten es nach Havanna geschafft, wo es eine große Gemeinde von Exilarmeniern gab.

Nachdem die beiden Frauen zwei Jahre in Kuba verbracht hatten, kamen sie über Ellis Island in die Vereinigten Staaten. „Nach ihrer Ankunft nahmen Sarah und Rose Kontakt zur armenischen Gemeinde auf und man verheiratete sie mit zwei jungen Männern namens Oscar Bedrosian und Vartan Mikaelian. Sie zogen schließlich nach New York und gründeten eigene Familien“, sagt Vogel. Sarah und Oscar Bedrosian ließen sich um 1925 in der Bronx nieder, 1927 kam Anita Vogels Mutter Mary zur Welt.

 

Sarah und Oscar Bedrosian.

Es ist eine bemerkenswerte Geschichte: Sie entkamen dem osmanischen Albtraum und leben nun hier den amerikanischen Traum. Anita Vogel ist stolz auf ihre armenische Herkunft, dennoch empfindet sie zugleich tiefe Dankbarkeit gegenüber den Türken, die ihrer Familie halfen, den Gräueln des Völkermordes zu entkommen.

 

Anita und ihre Mutter auf Anitas Hochzeitsfeier im Jahr 2013. 

„Ich halte es oft für ein Wunder, dass es mich heute gibt. Ohne die Beharrlichkeit meines Urgroßvaters und seinen Überlebenswillen, ohne die vielen Türken, die meiner Großmutter bei ihrer Flucht halfen, ohne das hätte meine Familie nie überlebt. All diesen Menschen bin ich natürlich unendlich dankbar, wo auch immer sie oder ihre Familien heute sein mögen. Ich glaube fest daran, dass mich die Vergangenheit meiner Familie geprägt hat, denn ich betrachte das Leben nicht als selbstverständlich. Ich habe größten Respekt vor alten Menschen und dem, was sie alles in ihrem Leben haben durchmachen müssen.“

Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.