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Marianna Pogosyan

Marianna Pogosyan

Hört oder liest man die Schilderungen von Armeniern, die Anfang des 20. Jahrhunderts lebten, so kann man sich dem Schleier der Trauer, der ihnen innewohnt, nur schwerlich entziehen. Es scheint, als habe jede Familie ihre Geschichte von Verlust, die sie nicht loslässt. Kaum einer hat keinen Urgroßvater, der dem Tod nicht ins Auge hätte sehen müssen. Kaum einer keine Urgroßmutter, die nicht Ehemann, Bruder oder Kind hätte begraben müssen, fest entschlossen in Würde weiterzuleben, und sei es nur um des Lebens willen. Meine Familie ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
 

Mein Urgroßvater Ghevond führte ein einfaches Leben mit seinen Eltern und beiden jüngeren Geschwistern in Khatsch, einem malerischen Dorf mit 700 Einwohnern in der westarmenischen Provinz Erzurum des Osmanischen Reiches. Gegründet hatten es ihre Vorfahren, die Brüder Lazaryan. Alles schien in bester Ordnung bis zum scheinbar ereignislosen Frühling des Jahres 1915, als Vater und Onkel unter den traurig herabhängenden Blüten des Apfelbaumes der Familie Lebewohl sagten, nachdem man sie zum osmanischen Heer eingezogen hatte. Sie sollten nie wieder heimkehren. Bald darauf machten Gerüchte die Runde, die nichts Gutes verhießen: Ein furchtbares Gemetzel sollte im Gange sein. Darüber konnte auch nicht das Erwachen der Natur hinwegtäuschen, das neues Leben versprach.

Innerhalb nur weniger Monate wurde der 400 Jahre alte Stammbaum der Familie Lazaryan beinahe vollständig ausgelöscht: Von den 114 Mitgliedern der Großfamilie überlebten gerade einmal achtzehn. Als die Nachricht über die Massaker an ihren Landsleuten das Dorf erreichte, nahm Ghevonds Mutter ihre drei Kinder, verließ im Dunkel der Nacht ihr Heimatdorf und floh gen Osten. Ihr blieb nur die Erinnerung an ein Leben, das bis dahin in all seiner Einfachheit nicht hätte glücklicher sein können.

Während ihrer 700 Kilometer langen Flucht, auf der Ghevonds jüngere Schwester an Entkräftung starb, erlebten sie Schreckliches: Hinter jeder Höhle, in der sie bei Einbruch der Nacht Schutz suchten, lauerte der Tod; in den Augen derer, die sich wie sie auf der Flucht befanden, stand Todesangst geschrieben; an dem Überlebenswillen, der nicht gebrochen werden durfte, nagte der Hunger. Dennoch begegnete ihnen auch Güte in Form von Fremden, die ihnen Brot gaben und Unterschlupf gewährten.

Bis zu jenem Tag, als sie sich nach Monaten der Verzweiflung auf dem Gipfel eines Berges vor einer Kathedrale wiederfanden, hatte eine unsichtbare Macht ihre Hand schützend über sie gehalten.

Die Stille der Jahrhunderte hallte von den Mauern der Kathedrale Christi des Heiligen Retters und umschloss sie. Ein letztes Lächeln huschte über das Gesicht von Ghevonds Mutter, das vom Wind gezeichnet und der Sonne gegerbt war. Die Berge Karabachs schimmerten sanft in der aufgehenden Sonne, als sie auf den Stufen des Gotteshauses niederkniete. Sie ließ die Hand ihres Sohnes los und tat ihren letzten Atemzug.

 

                                            Ghevond Manukyan, Mariannas Urgroßvater.

Mein Urgroßvater Ghevond sollte noch weitere acht Jahrzehnte leben, nachdem er auf den Stufen der Kathedrale in den Bergen Karabachs zum Waisen geworden war. Obwohl ihm durch das erlebte Trauma die Unschuld der Kindheit allzu früh geraubt worden war, blieb er einer der gütigsten und lebensbejahendsten Menschen, die ich jemals in meinem Leben kennenlernen durfte.

 

Ghevond Manukyans Frau Siranush und ihre Kinder. Das Mädchen auf dem Stuhl ist Mariannas Großmutter Klara.

Er führte ein bescheidenes Leben und arbeitete stets mit Fleiß, ob als Maurer beim Bau des ersten Kraftwerkes in Armenien oder später als Leiter des Sozialamtes in der Stadtverwaltung von Gjumri. In seinen letzten Jahren schrieb er gar seine Memoiren nieder und brachte sie als Buch heraus: in einem Klima, das vor dem Völkermord lieber die Augen verschloss.

 

 Die Vorderseite des Einbandes von Ghevond Manukyans Buch „Erinnerungen an die Vergangenheit“

Erst als mein Vater Jahrzehnte später mit der ganzen Familie von den majestätischen Bergen Armeniens an das andere Ende des großen Ozeans zog, erfuhren wir von einer Armenierin, die zu einer Zeit in Japan lebte, als die meisten ihrer Landsleute, darunter auch Ghevond und sein jüngerer Bruder, auf die Gnade Gottes und die Güte Fremder vertrauten, um zu überleben. Der Name der Frau war Diana Apkar. Aus der Ferne wurde sie zur Wohltäterin für hunderte armenischer Waisenkinder und verhalf ihnen zur Flucht in die Vereinigten Staaten über Sibirien und Japan. Sie ermutigte die japanische Regierung, humanitäre Hilfe nach Armenien zu schicken und es später als unabhängigen Staat anzuerkennen. Diana Apkar wurde als erste Frau im Rang einer Generalkonsulin in den diplomatischen Dienst berufen, um ihr Land in Japan zu repräsentieren.

 

                                                                          Diana Apkar

Jedes Jahr besucht mein Vater ihr Grab. Als erster Botschafter Armeniens in Japan, Nachfolger von Diana Apkar und Enkel von Ghevond Manukyan spricht er oft darüber, wie geehrt er sich fühle und wie dankbar er sei, zu einem Volk der Überlebenden zu gehören.

 

                                       Dr. Grant Pogosyan, der armenische Botschafter in Japan.

Unsere Existenz verdanken wir unserem geliebten Urgroßvater Ghevond und dem Überlebenswillen seiner Mutter. Nicht weniger stehen wir auch in der Schuld all der Fremden, die ihm mit ihrer Güte den Weg in einer Zeit der Dunkelheit leuchteten, denn sie ließen ihn nicht nur weiterkämpfen, sondern stellten auch seinen Glauben an die Menschheit wieder her. 

Über die Verfasserin: Die in Armenien geborene Marianna Pogosyan hat ihr Leben auf verschiedenen Erdteilen verbracht und dabei viele verschiedene Sprachen gesprochen. Sie machte ihren Bachelor of Arts im Fach Internationale Studien an der Christlichen Universität von Japan und ihren Master of Science in Linguistik an der Universität von Edinburgh. Nachdem sie eine Zeitlang die USA bereist und auch dort gearbeitet hatte, kehrte sie nach Tokio zurück, um ihre interdisziplinäre Doktorarbeit zu schreiben, in der sie kulturübergreifende Psychologie und Marketing zusammenführt. Zurzeit lebt Marianna Pogosyan in Deutschland, wo sie Führungskräfte und ihre Familien in allen Angelegenheiten berät, die Eingewöhnung und Anpassung an ein Leben fern der eigenen Heimat betreffen. Im Herzstück ihrer literarischen Betätigung widmet sie sich der menschlichen Psyche und der Bedeutung verschiedener Kulturen sowie der daraus resultierenden Wirkung auf eines unserer grundlegendsten Bedürfnisse: nämlich dem, sich dazugehörig zu fühlen.

Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.