Sesede Terziyan

Sesede Terziyan

„Ich flog nach Anatolien, um mehr über meine Herkunft zu erfahren. Die ersten Ansprechpersonen waren  meine Familienangehörigen, die heute noch in Istanbul leben. Erst hatte ich Sorge, ich könnte an eine alte Wunde rühren und respektlos erscheinen. Aber meine Großtanten und mein Opa haben sich sehr gefreut.“  
 

Die Geschichte von Aram Terziyan, erzählt von seiner Enkeltochter Sesede Terziyan. 

Es ist das Jahr 1923. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich liegt einige Jahre zurück. Er kostete anderthalb Millionen armenische Männer, Frauen und Kinder das Leben. 

Der Name des türkischen Generals Mustafa Kemal ist in aller Munde. Er wird sich später Atatürk, Vater aller Türken, nennen. Unter seiner Führung gelang es den Türken, mehrere Siege zu erzielen. Er will auf den Ruinen des Osmanischen Reiches eine neue Türkei gründen. Seine Reden und Ansprachen geben den Türken ein starkes Nationalbewusstsein, die einheimischen Minderheiten lassen sie mit Sorge in die Zukunft blicken.  

Französischsprachige Schweiz, Lausanne Juli 1923

Mustafa Kemal begegnet den Siegermächten auf Augenhöhe. Nach monatelangen Verhandlungen unterzeichnen die Siegermächte am 24 Juli 1923 den Vertrag von Lausanne. Die Bestimmungen haben gravierende Folgen. Sie nehmen Millionen Armeniern den Traum eines eigenen Staates und bewirken einen enormen Emigrationsschub der Christen aus der neugegründeten türkischen Republik. 

 

Garabed Terziyan mit seinem sechs Monate alten Sohn Aram auf dem Schoss. 

 

Garabed und Mariam Terziyan, 1920er Jahre

Einige wenige Christen weigern sich weiterhin, ihre Geburtsstätte zu verlassen, so auch Garabed Terziyan. Nach dem Einsatz als Zwangssoldat ist er in seine Heimatstadt Yozgat zurückgekehrt. Von dreißigtausend Armeniern, die vor seiner Einberufung in die Armee hier lebten, sind nach den Deportationen im Jahr 1915 nur noch achtundachtzig übrig.  

Die massive Auswanderung seiner Landsleute aus der Türkei und die Annullierung des Vertrags von Sèvres stimmen Garabed nachdenklich. Er tröstet sich damit, dass der Vertrag von Lausanne den Armeniern und den Griechen einige Minderheitenrechte verspricht. Es hätte schlimmer kommen können. Die Aramäer wurden nicht einmal als Minderheit anerkannt und dürfen ihre Kultur und Sprache nicht mehr öffentlich leben. Damals kann Garabed nicht ahnen, dass dasselbe Schicksal auch anderen Minderheiten widerfahren wird.  

Er ist in eine junge Armenierin verliebt, die wie er bis auf einen Bruder alle Verwandten verloren hat. Garabed möchte bei ihr bleiben und trotz des großen Altersunterschieds mit ihr eine Familie gründen. Er blickt optimistisch in die Zukunft.

Obwohl Garabed den Zenit seines Lebens überschritten hat, heiratet er die junge Mariam und sie bekommen zwei Kinder. Doch er schafft es nicht mehr, seine Kinder aufwachsen zu sehen. Garabed stirbt kurz nach der Geburt seines Sohnes im Jahr 1922, ohne seine Frau und Kinder finanziell abgesichert zu haben.

In ihrer finanziellen Not und ihrer Ausweglosigkeit lässt sich Mariam auf eine Heirat mit einem Türken ein. Die fortwährende Zerstörung der armenischen Kirchen, Schulen und Friedhöfe macht ihr Angst. Durch eine Heirat will sie sich und ihren Kindern eine Existenz sichern. Diese Entscheidung belastet bis zu ihrem Tod die Beziehung zu ihrem Sohn Aram, der ihr diesen Schritt nicht verzeihen kann.  

 

Aram mit Mutter und Schwester Schuschanik Jahre später

 

Der Stiefvater und die Namensreform, 1930er Jahre

Seit Gründung der Republik sind nun zehn Jahre vergangen. Mustafa Kemal verfolgt die Politik der Türkisierung konsequent weiter. In diesem Sinne setzt er im Jahr 1934 auch eine Namensreform durch. Demnach ist jeder Bürger der Türkei verpflichtet, anders als bislang üblich, einen Nachnamen zu tragen. Die Nachnamen müssen allerdings dem türkischen Wörterbuch entstammen. Aram, der zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt ist, heißt von nun an nicht mehr Terziyan, sondern Terzioglu. In den Jahren zuvor waren seine Mutter und die Schwester unter dem Druck des Stiefvaters zum Islam konvertiert. Seine Schwester hieß nicht mehr Schuschanik, sondern bekam den türkischen Mädchennamen Nurdane.

Wegen der despotischen Art hegt Aram diesem gegenüber eine tiefe Abneigung. Als sich die Atmosphäre weiter zuspitzt und der Stiefvater ein weiteres Mal versucht, ihn zum Islam zu konvertieren, verlässt Aram ein für alle Mal das Haus und kommt bei seinem Onkel unter.

Dank seiner Hilfsbereitschaft, seines starken Willens und des Glaubens an sich selbst wächst er zur einflussreichsten Person in Sorgun heran. Sorgun ist die zweitgrößte Stadt der ehemals armenischen Provinz Yozgat und ein beliebter Erholungsort. Vor siebzig Jahren ist sie jedoch eine jahrtausendalte verfallene Stadt, die dank Aram kulturell aufzublühen beginnt. 

 

Aram mit Frau Sesede (hinten im Foto), Schwester, die neben ihrer Mutter steht, und Sohn Nuray.

 

Aram Terzioglu und seine Kinder

Es ist das Jahr 1951. Seit zwanzig Jahren erschüttern politische und soziale Unruhen und ständige Regierungswechsel das Land. Die Korruption höhlt die Wirtschaft aus. Die Existenz der christlichen Minderheiten in der Türkei erfordert von diesen erhebliche Zugeständnisse und Flexibilität.

Aram genießt in Sorgun hohes Ansehen. Viele Einwohner der Stadt verdanken ihm ihre Einkünfte und ein vielfältiges kulturelles Angebot.

Seine Verdienste für die Stadt werden ihm Jahre später in den Geschichtsbüchern hoch angerechnet.

Aram ist mit der schönen Sesede verheiratet. Sie haben zwei Söhne, Garbis und Nurhan. Neben zahlreichen Läden betreibt Aram ein Privatkino. Der unternehmerische Geist und der Einfallsreichtum Arams kamen ihm schon in seiner Jugend zugute. Als er aus dem Hause seines Stiefvaters auszog, verdiente er seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Zeitungen, die er als erster aus Ankara nach Sorgun brachte. Er schnitt den Leuten für Geld und für Tauschgeschäfte die Haare, zog ihnen die Zähne und produzierte Ziegelsteine. Noch in der Schule lernte er seine Herkunft zu verschweigen, um sich mit seinen Altersgenossen nicht zu verfeinden, denn die Geschichtsbücher stellten die Armenier als Landesverräter dar.

Trotz seines Einflusses ist das Leben in der Stadt Sorgun nicht leicht. Die türkische Gesellschaft toleriert keine Christen in hohen Positionen. Sie sind ausschließlich den Muslimen vorbehalten. Wie viele andere sieht sich auch die Familie Terzioglu mit der Realität konfrontiert, die von ihnen hohe Anpassungsfähigkeit abverlangt.

Armenisch sprechen Aram und Sesede nicht. Ihre Eltern unterließen es aus Sicherheitsgründen, ihnen Armenisch beizubringen. Später wird sich Arams jüngere Stiefschwester erinnern: „Wenn wir draußen gespielt haben, dann durften wir den Namen seines älteren Sohnes Garbis nicht nennen. Es war zu gefährlich. Wir riefen ihn einfach Ali.“

Aram gelingt es, durch regelmäßige Bestechungsgelder die Enteignung seines Eigentums abzuwenden. Doch auch der Umstand, dass sein Stiefvater ein Türke war, hält die Behörden davon ab, gegen Aram vorzugehen. Neben mehreren Läden und einem Privatkino, dem ersten Kino in Sorgun, besitzt Aram auch ein großes Haus, das durch weiteren Nachwuchs, Sevinc, Nuray und Suna, mit Leben gefüllt wird.  

 

Aram Terziyan, 1970er

 

Die Stadt Sorgun, 1970er Jahre

Es ist spät in der Nacht. Lautes Klopfen an der Tür holt Nurhan aus dem Schlaf. „Nurhan, beeil Dich, du musst sofort mitkommen“, ruft seine Nachbarin laut. Nurhan zieht sich an und rennt zum Kino, das er vor einigen Jahren von seinem Vater übernommen hat. Das Gebäude steht in Flammen. Die schönen französischen Filme, die er neulich aus Ankara gebracht hatte, das Filmarchiv der letzten zwanzig Jahre – alles brennt vor seinen Augen nieder. Nurhan ist wütend, seine Geduld ist am Ende. Die brutalen Übergriffe auf Griechen und Armenier 1955 in Istanbul hatten bereits viele verunsichert, seit einiger Zeit terrorisieren nun auch die Grauen Wölfe, Anhänger einer nationalistischen Bewegung, die nicht-muslimische Bevölkerung. Nurhan sieht keine Perspektive mehr für sich und seine Kinder in diesem Land. Sein Bruder Nuray hatte bereits einige Jahre zuvor die Türkei verlassen.  

Immer wieder versucht Nurhan, seinen Vater zu überreden, dass er mit ihm das Land verlässt. Er woll ihn nicht alleine zurücklassen. „Wenn sie ein Problem haben, sollen sie gehen“, beendet Aram das angefangene Gespräch. „Das ist mein Land. Ich bin hier geboren und ich werde hier sterben.“  

An dem Tag begreift Aram jedoch, wie ernst es seinem Sohn ist. Der Vater bittet ihn nach Istanbul zu ziehen: „Deutschland ist zu weit weg. Ich bin nicht mehr der Jüngste und meine Gesundheit macht auch nicht mehr lange mit. Wer weiß, ob wir uns wiedersehen, mein Sohn.“ Nurhan lässt sich jedoch nicht überreden: „Von einem kleineren Ghetto in das nächstgrößere kommen? In Istanbul haben sie den armenischen Friedhof zerstört und darauf den Taksim-Platz errichtet. Die tausend Jahre alten armenischen Kirchen werden abgerissen. Meinen Kindern kann ich kein Armenisch beibringen und kein Studium bieten. Sie haben hier keine Zukunft“, sagt Nurhan und schaut auf seine schwangere Frau Takuhi, die beiden Kinder Murat und Suzan. Es wird ihm klar: Sie würden noch dieses Jahr noch nach Deutschland ausreisen. Sesede sinkt in ihren Sessel zurück, die Hände vors Gesicht. 

Aram mit seinen Enkelkindern Suzan und Murat einige Jahre vor deren Abreise

 

Das Dorf Ruhwarden, 1980er Jahre

Über Österreich und nach einer Odyssee durch diverse Flüchtlingslager kommen die Terzioglus in Ruhwarden an. Sie bewohnen ein rotes Backsteinhaus zusammen mit anderen Familien. Ruhwarden ist ein idyllisches Dorf in Norddeutschland und liegt nordwestlich der Stadt Nordenham in Butjadingen. Dort kommt ihr drittes Kind auf die Welt. Nurhan nennt es nach seiner Mutter Sesede.

Doch auch in Deutschland sollten ihm einige Rechte verwehrt bleiben: das Recht zu reisen und zu arbeiten. Nurhan ist es gewohnt zu arbeiten, geht vor Gericht, um wenigstens die Rechte eines Gastarbeiters durchzusetzen. Jahrelang bittet er die deutsche Regierung darum, arbeiten zu dürfen. Er bekommt das Arbeitsrecht nach genau acht Jahren mit dem Erhalt des Gastarbeiterstatus. Das erste Mal seit acht Jahren verlassen sie das Bundesland Niedersachsen und ziehen nach Baden-Württemberg, wo Nurhan eine Arbeit gefunden hat. Im selben Jahr reisen sie auch nach Sorgun.

„Ich bin so froh, dass ich meine Großeltern erleben durfte“

sagt die Enkeltochter Sesede. Sie ist acht Jahre alt, als sie ihren Großvater Aram kennenlernt. Bis zu seinem Tod besuchen sie ihn jeden Sommer in Sorgun. „Als mein Großvater starb, fuhr mein Vater in die Türkei, um die Trauerfeier zu organisieren. Er kehrte nach vierzig Tagen zurück, sah mich lange an und sagte: „Sesede, mein Kind, ich habe vor vierzig Tagen meine Heimat verloren.“

Diese Worte werden sich bei Sesede tief ins Gedächtnis einprägen. Die Geschichte ihrer Vorfahren und die Gründe ihrer Ausreise erfährt Sesede erst im Laufe der Zeit. Fragen der Identität und der Gerechtigkeit beschäftigen sie bis heute. Am Anfang ihrer Schauspielkarriere nimmt Sesede ihren armenischen Nachnamen an, arbeitet ihre Familiengeschichte auf und erzählt sie in zahlreichen Theateraufführungen. „Vielleicht ist es kein Zufall, dass ich den Namen Sesede trage“, sagt sie. „Er passt so gut zu meinem Lebensweg. Schließlich bedeutet Sesede auf Türkisch ‚die Stimme erheben‘.“

Sesede ist heute erfolgreiche Theater- und Filmschauspielerin, die unter anderem in der beliebtesten deutschen Fernsehserie „Tatort“ mehrere Rollen innehatte. 

Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.

Titelbild: Verlobung Nurhan und Takuhi, 1972