„Als Kind und Jugendliche wollte ich meine Identität nicht mit einem solch schrecklichen Verbrechen in Verbindung bringen, die tragische Geschichte der Armenier war mir zu schwer.“
„Während langer Zeit habe ich mich von meiner armenischen Identität distanziert. Mein Vater, James Karnusian, war sehr engagiert in der armenischen Frage, und bei uns zu Hause war der Völkermord stets ein Thema. Als Kind und Jugendliche wollte ich meine Identität nicht mit einem solch schrecklichen Verbrechen in Verbindung bringen, die tragische Geschichte der Armenier war mir zu schwer“, erzählt Manuschak Karnusian, die im April ein Buch über die Armenier in der Schweiz unter dem Titel „Unsere Wurzeln, unser Leben“ herausgebracht hat.
Ihr Vater James Karnusian war Mitbegründer der Gesellschaft „Schweiz-Armenien“ in Bern und kämpfte unermüdlich dafür, dass das Thema des Völkermords an den Armeniern öffentlich wurde. Er schrieb Bücher, drehte Filme und gründete auch den armensichen Weltkongress. Seine Eltern Lucie Gostanian und Sarkis Karnusian hatten den Völkermord an den Armeniern überlebt. Lucie Gostanian war im Jahr 1900 in der Kilikischen Stadt Marasch auf die Welt gekommen. Die Stadt liegt im Süden der Türkei und heißt heute Kahramanmarasch. Als sie fünfzehn Jahre alt war, hatten die großflächigen Deportationen und Massaker in der Türkei bereits begonnen. Es war zu dieser Zeit, als ihre gesamte Verwandtschaft, eine 33köpfige Familie, kaltblütig ermordet wurde. Sie blieb als einzige am Leben, verwundet aufgefunden von einem Moslem, der sie dann zum Schweizer Arzt Jakob Künzler nach Urfa, heutigem Sanliurfa brachte. Als Bürger der neutralen Schweiz konnte Künzler während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich bleiben. In und um Urfa war er oft die einzige Person, die den verwundeten Armeniern half. In den Jahren von 1914 bis 1918 retteten Jakob Künzler und seine Frau Elizabeth Bender zahlreiche Armenier vor dem sicheren Tod.
Lucie Gostanian und Sarkis Karnusian mit ihrem Sohn James
Als 1922 die amerikanische Hilfsorganisation Near East Relief den Auszug der armenischen Waisenkinder aus der Türkei beschloss, war es Jakob Künzler, der etwa 8000 Waisenkinder aus der Türkei herausbrachte. Darunter was auch Lucie Gostanian. Manuschak Karnusian vermutet, dass ihre Großmutter auf diese Weise in die syrische Stadt Aleppo gelangte. Lucie Gostanian lernte ihren künftigen Ehemann Sarkis Karnusian in einem Flüchtlingslager kennen. Sarkis Karnusian war einer der Widerstandkämpfer, die während des Genozids die umliegenden Dörfer von Musa Dagh mutig verteidigt hatten. Das Paar lebte anschließend mit seinen fünf Kindern in der libanesischen Stadt Beirut.
Manuschak Karnusian ist in der Schweiz geboren und hatte - wie ihre anderen Geschwister auch - nur wenig Kontakt zu den Familienangehörigen ihres Vaters in Beirut. „Mein armenischer Großvater starb in den 1950er Jahren, bevor ich auf die Welt kam. Ich habe meine Großmutter vielleicht dreimal in meinem Leben gesehen, konnte aber nicht mit ihr sprechen. Ich sprach kein Armenisch, sie kein Englisch“, erinnert sich Manuschak Karnusian. In den 1970er Jahren wanderten ihre Großmutter und einer ihrer Söhne nach Toronto aus, wo Manuschak sie einmal besuchte. „Mezmama hat mich zum Mittagessen eingeladen und mir ein Bulgur gekocht. Sie wohnte in einer Blockwohnung zusammen mit meinem Onkel. Als sie dieses Bulgur aus dem Schrank nahm, wimmelte es von Käfern. Meine Großmutter und mein Onkel, so schien es, lebten sehr arm und etwas heruntergekommen.“
Kämpfer von Musa Dagh im Kindesalter. Bild mit freundlicher Genehmigung des Armenischen Genozid-Museums.
Es vergingen Jahre und „doch ließen mich meine Wurzeln nicht los“, sagt Manuschak. „Insbesondere als mein Vater starb, hatte ich das Gefühl, meine Wurzeln seien wie gekappt. Ich realisierte, dass ich meine eigene Familiengeschichte kaum kannte. Denn mein Vater erzählte wenig von der Geschichte seiner Eltern. Vielleicht wusste er selbst nicht mehr. Und wir fragten nicht nach."
Manuschak Karnusian begann mit Armeniern in der Schweiz Kontakt aufzunehmen. Sie wollte wissen, ob andere Armenier ihre Familiengeschichte besser kannten und wie sie ihre Identität definierten. Das brachte die ehemalige Journalistin auf die Idee, ein Buch darüber zu schreiben. „Ich wollte aufzeigen, was die Armenier für Leute sind, wie sie ihre Kultur leben und wie sie mit der tragischen Geschichte ihres Volkes umgehen. Mein Ziel war es, über den Völkermord hinauszugehen. Ich wollte deutlich machen, dass diese Leute leben, dass sie hier sind und auch fröhlich sind. Und dass sie nicht nur mit diesem Völkermord in Verbindung gebracht werden müssen.“
Die Idee darüber zu schreiben, trug sie, wie sie sagt, eine Weile mit sich herum, denn sie hatte Bedenken, ob sie das Vorhaben zeitlich und finanziell verwirklichen konnte. Eines Tages erhielt sie jedoch einen Brief aus Toronto und ihre Überraschung war groß: „An dem Tag, als ich mich entschieden hatte, dieses Buch zu schreiben, bekam ich einen Brief aus Toronto mit der Nachricht, dass meine Geschwister und ich von unserem Onkel ein bisschen Geld erben. Das war für mich wie ein Zeichen. Dank dem Erbe konnte ich einen Teil des Buches finanzieren. Das hat mir zusätzlich Mut gemacht.“
Um die verbliebenen Verlagskosten zu decken, machte sie ein Crowdfunding und so kam das Buch über die Armenier in der Schweiz als eine unabhängige Produktion heraus. „Es sind zwölf Lebensgeschichten. Zu jeder Geschichte gibt es zudem einen Sachtext zu Geschichte, Kultur, Politik und Wirtschaft. Es sind Texte zum frühen Armenien, zur Rolle der Kirche, zur Bedeutung der Sprache, zur Solidarität der Schweiz gegenüber den Armeniern. Meine Frage war denn auch: Was ist die armenische Identität? Was macht sie aus? Warum fühlen sich Leute, die in vierter Generation hier leben und überhaupt nichts mehr mit der armenischen Geschichte zu tun haben, als Armenier? Ich wollte ergründen, warum das so ist.“
Eine Frage blieb ihr jedoch bis heute unbeantwortet: „Warum mein Vater uns nicht Armenisch gelehrt hat, war nach seinem Tod meine größte Frage. Damals hieß es jeweils, dass er Deutsch lernen musste und deshalb nicht Armenisch sprach. Als Kind gaben wir uns mit dieser Antwort zufrieden. Schließlich hatte er sein Studium in Theologie an einem englischsprachigen Baptisten-Seminar in der Nähe von Zürich gemacht. Dann, mit der Annahme einer Pfarrstelle, musste er Deutsch lernen. Das war für uns damals logisch. Aber später, als er nicht mehr da war, dachte ich: Das kann doch nicht sein. Irgendwann spürt man doch, dass da mehr verloren geht, als nur eine Sprache. Die Sprache ist der Schlüssel zur Kultur. Warum er uns diesen Schlüssel nicht mitgegeben hat? Er, der so engagiert war? Auf diese Frage habe ich bis heute keine befriedigende Antwort.“
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.
Titelbild: Alexander Egger