Auf seine Mitglieder hält das britische Establishment seine Hand ebenso fest wie auf seine Geheimnisse. Ein Außenstehender wird selten hineingelassen. Die Chancen, dass es ein armenischer Junge aus Bagdad dorthin schafft, liegen ziemlich bei Null. Aber Ara, nunmehr Lord, Darzi ist es gelungen.
Darzi ist der bekannteste Armenier in London. Er ist ein angesehener Chirurg, Pionier der sogenannten Schlüssellochchirurgie, die unzähligen Menschen auf der ganzen Welt das Leben gerettet hat und ihnen invasive Operationen ersparte.
Er war auch Gesundheitsminister gewesen und wurde Mitglied des Oberhauses. Er ist im Kronrat und somit einer der engsten Berater der Königin.
LORD DARZI UND SEIN ADELSTITEL
Auch gehört er der Royal Society an, der ältesten und renommiertesten Akademie der Wissenschaften. Die Königin erhob ihn 2002 in den Adelsstand für seine Verdienste in Medizin und Chirurgie – da war er gerade einmal 42.
Nicht nur wurde er vom britischen Establishment aufgenommen, er hat auch einst zu seinem Überleben beigetragen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Eines Tages, als Darzi in seinem Amt als Gesundheitsminister eine Rede im Oberhaus hielt, erlitt ein Mitglied des Hauses, Lord Brennan, einen Herzinfarkt und brach zusammen. Mit Mund-zu-Mund-Beatmung, kardiopulmonaler Reanimation und einem Defibrillator rettete ihm Darzi auf dem Boden der Parlamentskammer das Leben.
„Ich weiß noch“, so Darzi, „wie ich John Sentamu, den Erzbischof von York, der an diesem Tag auch im Oberhaus war, für das Leben des Mannes beten sah. Als das Herz dank des Defibrillators wieder schlug, sagte ich zu Sentamu: ‚Erzbischof, ich glaube, ich habe Sie geschlagen.‘ Sentamu stutzte, lächelte, blickte auf und sagte: ‚Ich glaube, wir haben es gemeinsam geschafft.‘“
Leben zu retten lernte Darzi in Irland. Dort, am Royal College of Surgeons und am Trinity College hatte er seine Ausbildung zum Mediziner absolviert und seinen Doktor gemacht. In Dublin wurde ihm auch sein Spitzname verpasst. „Ara ist ähnlich wie der gängige irische Vorname Dara. Darzi ähnelt dem geläufigen irischen Nachnamen Darcy. Also fingen die Leute an, mich Dara Darcy, dunkler Paddy zu nennen“, erinnert sich Darzi lächelnd.
Das „dunkel“ ist seiner armenischen Herkunft und seiner Jugend in Bagdad geschuldet. Seine Familie stammt ursprünglich aus der Stadt Erzurum in der
Türkei. Sein Urgroßvater väterlicherseits, Tatyos Shiroian, hatte mit seiner Frau Elbiz Shiroian vier Söhne und eine Tochter. Tatyos und seine Söhne wurden während des Völkermordes von den Osmanen umgebracht. Elbiz und ihre Tochter Arevalous, Darzis Großmutter väterlicherseits, waren die einzigen Überlebenden der Familie.
„Sie wanderten wochenlang barfuß von Erzurum in den nördlichen Irak und landeten im irakischen Mossul, dank der Hilfe eines Freundes meines Urgroßvaters,“ so Darzi. „Mein Vater Warkes kam dort im Februar 1930 zur Welt. Er lernte Dickie, meine Mutter kennen und sie heirateten im Jahr 1959. Dickie stammte aus Bagdad, ich wurde 1960 in Mossul geboren.“
In Bagdad erfuhr er über seine Heimat. „Ich war zwar nie in Armenien gewesen, aber ich wuchs auf in dem Gefühl, Armenier zu sein. Wir nahmen an armenischen Messen teil. Ich war im Kirchenchor. Ich lernte Armenisch und sprach es auch zu Hause. Ich spreche es heute noch mit meinen Eltern und meiner Schwester.“
Nach Beendigung seiner Ausbildung am Bagdad College, auf das auch sein Vater gegangen war, wurde ihm bald bewusst, dass er sein Geburtsland würde verlassen müssen. „Wir waren Flüchtlinge. Im Irak ging es uns gut, aber es war ganz klar, dass wir wieder weiterziehen mussten. Der erste Golfkrieg deutete sich an. Ich weiß noch, wie mein Vater sagte: ‚Die Kinder müssen hier raus.‘“
Irland winkte. Er war da gerade mal 17 Jahre alt. Seine Schwester Vilma schloss sich an. Warkes und Dickie landeten in London, wo sie heimisch wurden und heute noch leben.
Als Kind gedachten Darzi und seine Familie regelmäßig des Völkermordes. „Immer wieder, zu diesem Jahrestag, gingen wir in die Kirche zum Beten, Familie und Freunde versammelten sich. Wir sprachen darüber.“ Hundert Jahre nach dem Völkermord fragt er sich „ob wir manchmal mit der Vergangenheit etwas übertreiben. Ich finde, wir sollten das Beklagen hinter uns lassen und nach vorne blicken statt zurück. Für Armenien als Nation und die Diaspora hat es eine Menge Erfolgsgeschichten gegeben. Die Vergangenheit sollten wir nicht vergessen, sondern sie würdigen, aber wir sollten auch nach vorne schauen.“
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Er geht mit gutem Beispiel voran. Durch das Institut Global Health Innovation, das er leitet, hilft er, Gesundheitssysteme in Armenien auf die Beine zu stellen und die Qualität der Chirurgie zu verbessern. „Wir stehen vor großen Aufgaben. Wie kann man gegen Krankheiten angehen. Die Lebenserwartung in Armenien ist eine der niedrigsten. Dreimal habe ich in Jerewan eine Schlüssellochchirurgie vorgenommen. Ich habe Krankenhäusern Ausrüstung bereitgestellt. Ich habe auch einige Trainingskurse veranstaltet. Ich habe Ärzte hierher nach London gebracht, damit sie in Forschung und klinischer Praxis weiterkommen.“
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„Armenien wird niemals richtig auf die Beine kommen“, so seine Überlegung, „wenn wir nicht Kräfte bündeln und die Leute im Land halten. Wir Armenier haben die gemeinsame Aufgabe, ein besser geregeltes Gemeinwesen, politische Stabilität und wirtschaftliche Stabilität zu schaffen. Darauf sollten wir die nächsten 100 Jahre hinarbeiten.“
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.