Leslie Davis

Leslie Davis

Leslie Davis war amerikanischer Diplomat, Augenzeuge und Chronist des Völkermordes an den Armeniern. Die Berichte, die er für seinen Botschafter Henry Morgenthau in Konstantinopel abfasste, enthalten einige der wertvollsten Beweisstücke, dass es die Massaker wirklich gab.
Leslie Davis kam 1876 in Port Jefferson im US-Bundesstaat New York zur Welt. Im Alter von 22 Jahren machte er 1898 seinen Abschluss als Bachelor der Philosophie an der Cornell-Universität. Danach schrieb er sich an der George-Washington-Universität ein, um 1904 auch seinen Abschluss als Bachelor der Rechtswissenschaften zu erwerben. Während seiner Studentenzeit arbeitete er als Journalist. Neben seiner Muttersprache Englisch beherrschte der polyglotte junge Mann Französisch, Deutsch, Russisch und Spanisch.
 
Leslie Davis Karriere im diplomatischen Dienst begann 1912 mit seiner Entsendung ins georgische Batumi, das damals zum Russischen Kaiserreich gehörte. Während eines Urlaubs im Jahr 1913 bereiste er Usbekistan, wanderte durch den Kaukasus und bestieg am 7. September den Berg Ararat. Da die Umgangsformen des Neulings zu wünschen übrig ließen – so jedenfalls beschrieb es der amerikanische Konsul A. L. Gottshalk in Batumi – beschloss man, ihn nach Harput zu entsenden, eine entlegene Gegend fernab der Zivilisation, wo dieser angebliche Mangel nicht weiter auffalle. Damals kannte man die Provinz auch als Kharberd, heute heißt sie Elâzığ. Von den insgesamt dreizehn amerikanischen Konsulaten im Osmanischen Reich war das in Harput, dem Herzen der armenischen Provinzen, das entlegenste. Am nächsten lag der neuen Dienststätte ein deutsches Konsulat in Erzurum unter Leitung von Herrn Schober-Richter.
 

Vahe Hayk, Kharberd und die goldene Ebene: historisches, kulturelles und ethnologisches Gedenkbuch. Verein armenischer Patrioten aus Kharberd, New York 1959.

 
Am 31. Mai 1914 kam Leslie Davis in Harput an, das er später in seinen Berichten als das Schlachthaus unter den Provinzen beschrieb. Im Juni 1915 wurden dort auf Anordnung der osmanischen Behörden armenische Männer in immer größerer Zahl festgenommen. Am 26. Juni gab die Regierung in Konstantinopel schließlich einen Erlass heraus, in dem die massenhafte Deportation aller Armenier angeordnet wurde. Am 1. Juli verließ eine erste Gruppe die Stadt. „Es scheint, als seien all die […] Männer, Frauen und Kinder ungefähr fünf Stunden Fußmarsch entfernt von hier in einem Massaker getötet worden. Tatsächlich ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass mit Ausnahme einer sehr kleinen Zahl der in den ersten Julitagen Deportierten alle Menschen ausnahmslos Massakern zum Opfer fielen, noch bevor sie die Grenzen der Provinz erreicht hatten“, schreibt Leslie Davis.
 
Der Dolmetscher des Konsulats Karapet Petrosyan, der zugleich als Leibwächter für Leslie Davis arbeitete, bestätigte dessen Bericht. Er war selbst ein Überlebender des Völkermordes und schrieb 1923 folgende Zeilen an den Amtsleiter für konsularische Angelegenheiten im Außenministerium Wilbur Carr: „Einige Tage darauf erreichte uns die Nachricht, dass man die deportierten Menschen wenige Meilen außerhalb Harputs töte. Konsul Davis konnte dies kaum glauben und so ritten wir gemeinsam aus der Stadt. Nach ungefähr drei Meilen bot sich uns ein Bild des Grauens: Leichen säumten die Straße, zuhauf lagen sie auf beiden Seiten. Nach etwa fünfzehn Meilen entdeckten wir ganze Leichenberge: Man hatte Tausende von Männern, Frauen und Kindern getötet, ihre Körper waren der Verwesung preisgegeben. Dieser Anblick ließ den Konsul zu der Überzeugung gelangen, der Gouverneur beabsichtige die vollständige Auslöschung des armenischen Volkes in seiner Provinz, und so tat er von da an alles in seiner Macht Stehende, um den noch verbliebenen Bürgern armenischer Abstammung Schutz zu bieten.“
 
Leslie Davis sandte einen Bericht an das amerikanische Außenministerium, in dem er darlegte, wie sehr ihn das Geschehen schockiere. Ebenso brachte er seine Sorge zum Ausdruck, dass er als einziger Ausländer in offizieller Mission die sich abspielende Tragödie bezeugen könne. Dass dem Morden kein Einhalt mehr zu gebieten sei, war ihm schmerzlich bewusst, umso entschlossener setzte er sich dafür ein, wenigstens einigen Menschen das schreckliche Schicksal ihrer Nachbarn zu ersparen.
 
Das Konsulat als sicherer Hafen
 
Um dem finsteren Plan, das armenische Volk auszurotten, wenigstens etwas entgegenzusetzen, richtete er in dem riesigen Bau, der das amerikanische Konsulat beherbergte, eine Zuflucht für Schutzsuchende ein.
 
Seit den ersten Tagen massenhafter Deportationen versuchte er, möglichst viele Armenier unterzubringen.
„Das wichtigste Ziel zurzeit muss sein, möglichst viele Menschen vor dem sicheren Tod zu bewahren und ihnen beim Verlassen des Landes zu helfen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Es ist jedoch nicht abzusehen, welche weiteren Maßnahmen man zu ergreifen gedenkt gegen die wenigen Überlebenden, die sich derzeit in meiner Obhut befinden. Unter den gegenwärtig herrschenden Bedingungen dürfte es sich als äußerst schwierig gestalten – um vieles schwieriger, als sich diejenigen vorzustellen vermögen, die einen zivilisierteren Ort ihr Zuhause nennen – auch nur einen Einzigen vor den hiesigen Schlächtern zu retten, sollten sie sich die Menschen mit Gewalt holen wollen“, schrieb Leslie Davis am 30. Dezember 1915 an den amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau in Konstantinopel.
 

Leslie Davis setzte sein eigenes Leben aufs Spiel, indem er ungefähr 80 Armenier im Gelände des amerikanischen Konsulates versteckte.

 
Das Grundstück und auch das Konsulatsgebäude selbst waren groß und stark befestigt. Etwa die Hälfte der Armenier kampierte im Garten. Den Kindern hatte man eingeschärft, sich stets leise zu verhalten. Die Männer hielten sich bei Tag im Lagerhaus versteckt und kamen erst nach Einbruch der Nacht heraus, um frische Luft zu schnappen. Sie alle schwebten in großer Gefahr, denn man hatte sie gebrandmarkt als „Firari“, was so viel wie Taugenichts und Sünder bedeutet. „Das Verbrechen, dessen sie sich in den Augen der Türken schuldig gemacht hatten, bestand darin, dass sie sich nicht hatten umbringen lassen wollen und den Häschern davongelaufen waren. Ein Verbrechen, das – betrachtet man es mit den Augen eines Gerechten – keines ist. Dennoch wurden Frauen und Kinder sowie die verbliebenen Männer monatelang von der Polizei als Flüchtige rücksichtslos gejagt und festgenommen.“
 
Leslie Davis persönlich sorgte für die Verpflegung der Armenier. Um ihnen sicheres Geleit aus dem Land und die Einreise in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen, ließ er seine diplomatischen Beziehungen spielen: Dank dieser Einflussnahme stellte der Provinzgouverneur letztendlich die notwendigen Papiere aus.
 
Sichere Verwahrung von Wertsachen
 
Diejenigen Armenier, die im amerikanischen Konsulat Zuflucht gefunden hatten, vertrauten Leslie Davis Bargeld, Schmuck, Lebensversicherungen und Wertpapiere zur sicheren Verwahrung an. Als sich die Lage immer weiter zuspitzte und auch ausländische Missionare in der Provinz um ihr Leben fürchten mussten, baten auch sie den Konsul, ihre Wertsachen sicher zu verwahren. „Eine Zeitlang befand sich Gold im Wert von 200.000 Dollar in meinem Besitz, und das obwohl all meine bewaffneten Wachen die meiste Zeit außer Haus waren. So ergriff mich große Furcht und ich stellte mir die Frage, was wohl geschähe, wenn das Konsulat überfallen würde, während ich dort allein und schutzlos bin.“
 
Der Gouverneur verlangte von Leslie Davis die Herausgabe aller Wertsachen derjenigen Armenier, denen dieser Zuflucht gewährt hatte. Er weigerte sich und hielt sie in sicherer Verwahrung, bis er 1917 das Osmanische Reich verließ.
 
Wie man dem Bericht des Konsuls entnehmen kann, gab er das meiste davon vor seiner Abreise aus Harput an die rechtmäßigen Eigentümer zurück. Einen Teil des Geldes übergab er an dänische Missionare, die Lebensversicherungen an einen deutschen Missionar namens Ehmann. Was er nicht mehr zurückgeben konnte, nahm er mit in die Vereinigten Staaten und verteilte es an die Verwandten der Eigentümer.
 

Vahe Hayk, Kharberd und die goldene Ebene: historisches, kulturelles und ethnologisches Gedenkbuch. Verein armenischer Patrioten aus Kharberd, New York 1959.

 
Leslie Davis gewährte nicht nur Verfolgten Zuflucht, er sammelte auch Spendengelder zur Unterstützung derer, die den Völkermord überlebt hatten und sich in anderen Teilen der Provinz wie zum Beispiel den Bergen oder geplünderten Dörfern versteckt hielten. Dort harrten sie aus. Er wurde zu einer Art Mittelsmann zwischen den Armeniern in Harput und ihren Verwandten in den Vereinigten Staaten. Letztere schickten Geld an das Konsulat, das Davis an die Menschen in ihren Verstecken weiterleitete.
 
Der amerikanische Konsul hatte Verbindungen in die entferntesten Teile der Provinz, selbst nach Malatya und Arabkir, wo ihm Armenier von Familienmitgliedern erzählten, wie sie das Morden überlebt hatten. Auch arbeitete er zusammen mit den Kurden aus der ostanatolischen Provinz Dersim. So konnte er auch mit den dort untergekommenen Armeniern in Verbindung bleiben. Kurdische Briefträger versteckten die Post in ihren Schuhen.
 
Ebenso am Herzen lag Leslie Davis das Schicksal armenischer Überlebender in den Nachbarprovinzen Diyarbakir und Sebastia. Letztere kennt man heute unter dem Namen Sivas. Er berichtete von kleineren Beträgen, die er per Banküberweisung an die Armenier schickte, die er dort kannte. Erhielt er eine Bestätigung der Transaktion, wusste er, dass seine Bekannten noch am Leben waren.
 
Unermüdlich und unerschrocken
 
Nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten 1917 kehrte Leslie Davis in seine Heimat zurück. Seine Hilfe für Armenier führte er fort. Bereits vor dem Völkermord waren viele Armenier aus Harput auf der Suche nach Arbeit in die Vereinigten Staaten eingewandert. Mit Genehmigung des Außenministeriums nahm er Kontakt zu diesen Einwanderern auf, die sich um das Schicksal ihrer Verwandten sorgten. Er setzte alle Hebel in Bewegung, um den Aufenthaltsort möglicher Überlebender zu ermitteln.
 
Während der Hauptphase des Völkermordes in den Jahren 1915 und 1916 hinterließ der Wagemut von Konsul Davis beim amerikanischen Missionar Henry Riggs einen solch bleibenden Eindruck, dass er diesen im Dezember 1917 in einem Brief an den Amtsleiter für konsularische Angelegenheiten im Außenministerium Wilbur Carr erwähnte: „Konsul Davis war unermüdlich und unerschrocken, er fand stets den richtigen Ton. Durch ebendiese Art vermochte er viele Leben zu retten, die sonst verloren gewesen wären, obgleich die Behörden vor Ort stets darauf beharrten, er sei von Rechts wegen gar nicht befugt, sich in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches einzumischen.“
 
Leslie Davis blieb bis 1941 im diplomatischen Dienst. Vor seinem Ruhestand arbeitete er in Porto, Zagreb, Patras, Lissabon und Glasgow. Er starb am 27. September 1960 in Pittsfield.
 
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.
 
Titelbild mit freundlicher Genehmigung des armenischen Völkermordmuseums.