Kim Kashkashian kam als Tochter armenisch-amerikanischer Eltern in Detroit im US-Bundesstaat Michigan zur Welt. Zu Weltruhm brachte sie es als Musikerin, der in der Klassik nur wenige das Wasser reichen können. Auf der Bratsche, so heißt es beinahe einhellig, sei sie die begabteste überhaupt. 2013 wurde das Ausnahmetalent mit einem Grammy in der Kategorie Bestes klassisches Instrumentalsolo für ihre Aufnahme von „Kurtag und Ligeti: Musik für die Bratsche“ ausgezeichnet. Eine Reihe anderer Preise hatte sie bereits gewinnen können, darunter 2001 den Klassikpreis in Cannes für die Premierenaufnahme einer Solistin mit Orchester.
Kim Kashkashian besuchte die berühmte Interlochen-Kunstakademie und machte ihren Abschluss am Peabody-Konservatorium der Musik und an der Neuen Musikschule in Philadelphia. Als Kind wollte die Musikerin Klarinette spielen, doch dieses teure Instrument konnte sich die Familie nicht leisten. So nahm sie sich die Geige, die in ihrer Familie keiner mehr spielte. Seitdem bereichert sie die Welt mit ihrem Talent. Auch wenn Musiker meist aus Familien kommen, in denen andere Mitglieder ein Instrument spielen, trifft dies auf Kim Kashkashian nicht zu. Sie erinnert sich zwar, wie ihr Vater und ihre Tante zu Hause und in der Kirche sangen, dennoch ist sie die einzige Profimusikerin in ihrer Familie. „Irgendwo muss man ja anfangen“, sagt sie schulterzuckend.
Neben den vielen Auszeichnungen, die sie bekommen hat, fand Kim Kashkashian große Anerkennung für ihre feinsinnige und originelle Interpretation spanischer und argentinischer Volkslieder, darunter Manuel de Fallas „Asturiana“ (ECM Records 2006, begleitet von Robert Levin auf dem Klavier) sowie für ihre Uraufführungen von Werken zeitgenössischer Komponisten wie György Kurtág, Krzysztof Penderecki, Alfred Schnittke, Giya Kancheli, Arvo Pärt und Tigran Mansurian. Alles in allem hat die Musikerin etwa dreißig Alben aufgenommen, viele davon mit ECM und anderen Spitzenlabels.
Kritiker Tom Manoff schreibt für das National Public Radio, das aus einem Netzwerk von 900 nichtkommerziellen Hörfunksendern in den USA besteht: „Wenn ich ihren Namen höre, denke ich nicht zuerst an die Bratsche, sondern an Lyrik. Ebendiese Art von Musik, die wie ein guter Song ganz sanft mit viel Gefühl dahinfließt.“ Kim Kashkashian hat mit dem ihr eigenen Stil schon oft die großen Orchester der Welt begleitet, darunter die in Berlin, New York und Tokio. Auch mit den Quartetten in Guarnieri und Tokio hat sie schon gespielt, genau wie an der Seite von Koryphäen wie YoYo Ma und Gidon Kremer.
Kim Kashkashian spielt nicht nur regelmäßig auf den großen Bühnen der Welt, sondern sie unterrichtet auch an der Universität von Bloomington im US-Bundesstaat Indiana und an den Konservatorien in Freiburg und Berlin. Seit 2000 unterrichtet sie Bratsche und Kammermusik am Neuengland-Konservatorium in Boston.
Anastas Effendi, der Held
Die Geschichte der Familie Kashkashian steht stellvertretend für die so vieler anderer, deren Vorfahren den Völkermord überlebten dank der guten Taten und der Willenskraft von Nachbarn, die sich für sie einsetzten. Manchmal konnte schon ein einflussreicher Freund mit Verbindungen zur Regierung über Leben und Tod entscheiden.
Kim Kashkashians Großeltern väterlicherseits stammten aus der Stadt Sungurlu, die etwa 70 Kilometer südwestlich der Provinzhauptstadt Çorum an der Verbindungsstraße von Ankara nach Samsun liegt. Ihr Großvater Dikran Hushhushian war ein gebildeter Mann mit recht guten Verbindungen. Er heiratete Rakel Kurkjian, geborene Aslanian, eine junge Frau aus Gürün in der zentralanatolischen Provinz Sivas. Das Paar hatte zwei Kinder, Ardavast und Mary. Zu Dikrans Bekannten zählte der wichtige griechische Händler Anastas, dem man im Osmanischen Reich durch Nachstellung des Titels Effendi großen Respekt zollte. Heute erinnert man sich nur an seinen Namen, doch er spielte die entscheidende Rolle bei der Rettung der Familie.
Die Familie Kurkjian-Aslanian: Die Mutter mit ihrer kleinen Rakel auf dem Schoß (Mitte) |
Als die Deportationen begannen, erreichte Anastas Effendi einen Aufschub des Termins für die Familie Hushhushian. Mehrere Monate versteckten sie sich sicherheitshalber in der Scheune eines Bauernhofs. Schließlich gelang es ihm, Rakel und Mary mithilfe einiger Freunde an den richtigen Positionen in der osmanischen Regierung in Sicherheit zu bringen. Während Rakels Ehemann 1915 den Märtyrertod starb, konnten sie und Mary den kleinen Ardavast als Moslem verkleidet aus Yozgat hinausschmuggeln. Schließlich erreichte Rakel mit ihren beiden Kindern das Tor nach Amerika, Ellis Island. Von dort aus ging es nach Boston im US-Bundesstaat Massachusetts, wo sie sich mit der Arbeit in einer Textilfabrik ihren Lebensunterhalt verdienten.
Rakel Kashkashian (links) mit Verwandten |
Die mütterliche Seite der Familie von Kim Kashkashian stammte auch aus Gürün und wanderte noch vor dem Völkermord in die Vereinigten Staaten aus. Ihre Urgroßeltern Khachadur und Hannah Kamian hatten eine Tochter namens Mariam und drei Söhne: Manuel, Harry und Benjamin. Es gibt Aufzeichnungen, die belegen, dass Khachadur und Manuel 1906 an Bord des Schiffes St. Lawrence auf Ellis Island ankamen. Als Jugendlicher wurde Manuel zurückgeschickt, um den Rest der Familie nachzuholen. Mariam heiratete John Hekimian, und ihre Tochter Pearl 1947 Ardavast Kashkashian.
Zusammen mit Rakel und Mary zogen die beiden nach Detroit, das damals dank der dort ansässigen Automobilindustrie boomte. Ardavast und Pearl wurden beide Lehrer und bekamen zwei Kinder, Kim und Dikran.
Unterstützung durch „Musik für Essen“
Wenn Kim Kashkashian nicht auf Konzertreise ist oder unterrichtet, unterstützt sie ihre Gemeinde durch „Musik für Essen“, wo sie die künstlerische Leitung innehat. Die innovative gemeinnützige Organisation hilft Musikern, den Hunger in ihrer Heimat durch das Sammeln von Spenden zur Ernährung der notleidenden Menschen zu bekämpfen. Es konnten bereits über 200.000 Mahlzeiten ausgegeben werden: So viel Geld ist zusammengekommen bei Konzerten im Namen von über einem Dutzend Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Hunger widmen. Bis heute haben über einhundert internationale Künstler bei Konzerten von „Musik für Essen“ überall im Land gespielt.
„Durch ‚Musik für Essen‘ schaffen die Künstler etwas Greifbares mit ihrer Musik. Gleichzeitig schaffen sie so eine Atmosphäre, in der Bürger Verantwortung übernehmen, sowohl die Musiker wie auch ihr Publikum“, sagt Kim Kashkashian.
In New York, Boston, Cleveland, Cincinnati, Los Angeles und Chicago wird das Publikum zu spenden aufgerufen. Den Anwesenden wird erklärt, wie viele Mahlzeiten sich von dem Geld bezahlen lassen. „So kann man sich einfühlen in die Lage derer, die Hilfe brauchen“, erläutert Kim Kashkashian und merkt an, Hunger sei eines der großen Probleme in Amerika, jedoch eines, über das kaum gesprochen werde.
Kim Kashkashian sieht in ihrem Tun eine Verbindung zu den Erfahrungen ihrer eigenen Familie während der schrecklichen Ereignissen von 1915, sie rücken alles in die richtige Perspektive: „Man kann sich wünschen, die Dinge hätten sich anders entwickelt. […] Immerhin verlor meine Großmutter ihren Ehemann, doch sie konnte ihre Kinder retten.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Ich habe viel, wofür ich dankbar sein muss.“
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.