Karen Jeppe wurde 1876 in Dänemark als Tochter einer Mittelschichtfamilie geboren. Ihr Vater war Lehrer. Sie genoss eine unbeschwerte Kindheit in einer ruhigen, ländlichen Gemeinde namens Gylling.
Kaum jemand hätte geahnt, dass dieses kleine blonde Mädchen einmal eine entscheidende Rolle bei der Rettung eines Volkes spielen sollte.
Karen Jeppe ist in der armenischen Diaspora und in Armenien selbst eine Legende.
Direkt oder indirekt verdanken Tausende Armenier ihr das Überleben, die sonst im Völkermord umgekommen wären. Nur wenige haben aus eigener Kraft der Menschlichkeit einen solchen Dienst erwiesen wie Karen Jeppe.
Karen Jeppe war 13, als ihr Vater, ein Deutscher, sie in seine Heimat schickte, damit sie bei ihren dortigen Angehörigen die Sprache lernte. Dass sie innerhalb eines Jahres der deutschen Sprache mächtig war, spricht von ihrer linguistischen Begabung. Später beherrschte sie sechs Sprachen fließend.
Als sie aus Deutschland zurückkam, wurde sie in ein Kopenhagener Internat geschickt. Eines Abends las der Schulleiter aus einem Zeitungsbeitrag des Missionars Aage Meyer Benedictsen. Darin ging es um die Pogrome, die die Türken 1896 gegen die Armenier eingeleitet hatten.
Ein Jahr später, 1903, reiste Karen gegen den anfänglichen Widerstand ihres Vaters nach Urfa an der heutigen Grenze zu Syrien, um sich der deutschen Mission anzuschließen.
Nur ein Jahr brauchte Karen, um Armenisch, Arabisch und Türkisch zu erlernen.
Als Kind hatte sie schon mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit Sprachen gelernt, indem sie eine besondere Methode anwendete, die sich auf Ohr und Auge konzentrierte. Ihren jungen Schützlingen brachte sie das auch bei und sparte so ein Drittel der Zeit, die sie zum Erlernen einer zweiten Sprache benötigten. Ihr guter Ruf als Lehrerin und großes Organisationstalent wuchs fast mit jedem Tag.
1908 kehrte sie zurück in ihre Heimat, um Vorträge zu halten. Doch es kam zu neuen Grausamkeiten in Kilikien, das in etwa den heutigen türkischen Provinzen Adana und Mersin entspricht. Etwa 20.000 bis 30.000 Armenier waren abgeschlachtet worden. Karen Jeppe ging zurück. Derweil kehrte im Osmanischen Reich eine mulmige Ruhe ein.
Dann begann das Morden von Neuem.
Karen Jeppe stellte sich gegen die Flut.
Sie organisierte Nahrung und Wasser für die Karawanen verzweifelter Armenier, die auf ihrem Weg in den sicheren Tod in der Syrischen Wüste durch Urfa getrieben wurden. Trotz des ausufernden Blutbades blieb sie und verhalf Tausenden zur Flucht, indem sie die Armenier als Kurden oder Araber tarnte. Bis 1917 hatte sie fast zwei Jahre lang Armenier in ihrem Keller untergebracht. Krank und dem Nervenzusammenbruch nahe ging sie nach Dänemark zurück.
1921 kehrte sie mit Unterstützung des Völkerbundes nach Aleppo zurück auf der Suche nach armenischen Mädchen, die während des Völkermordes als Sklavinnen verkauft worden waren.Zwischen 1922 und 1923 errichtete sie Such- und Hilfsstationen in Aleppo. Mit Geld, das sie in Europa aufgetrieben hatte, gelang es ihr, viele Frauen und Kinder von ihren arabischen Besitzern freizukaufen. Leider weigerten sich manche Araber, die Babys für Geld wieder herauszugeben. In diesen Fällen blieben die Mütter lieber bei ihren Sklavenhaltern.
Immerhin bewirkte Karen Jeppe, dass an die 2000 Frauen aus der Sklaverei befreit wurden.
Aber die Begegnung mit einem arabischen Beduinen sollte ihr Gutes bringen.
Hadjim Pascha besaß einen Landstrich im Osten der Euphrat-Region. Karen Jeppe packte ihr kleines Zelt ein und fuhr zu ihm hinaus. Schon erstaunlich, wie eine sture Dänin und ein Beduine bereit waren, über Vorurteile hinweg etwas auszuhandeln. Gegenseitige Achtung und Sympathie waren der Schlüssel. Karen Jeppe brachte aus dem Treffen Folgendes mit: genügend Ackerland, um 30 Familien zu ernähren.
Friede und Freude kehrten ein. Die Piloten der französischen Luftwaffe wippten jedes Mal mit den Tragflächen, als sie regelmäßig vorbeiflogen.
1935 erlitt sie auf dem Weg zu ihrem Haupthaus in der Siedlung einen ihrer üblichen Malariaschübe, der jedoch wesentlich schlimmer war als alle zuvor. Sie wurde ins Krankenhaus nach Aleppo gebracht, wo sie kurz darauf verstarb.
Karen Jeppe wurde nur 59 Jahre alt, doch in ihrem kurzen Leben hat sie viel geleistet.
Ihr Vermächtnis ist für die Menschen, die sie liebte: Grund und Boden, ein Auskommen und eine Zukunft.
Sechs von ihren kleinen Siedlungen gibt es noch.
Bilder mit freundlicher Genehmigung vom Armenischen Genozid Museum-Institut und der Initiative 100 LIVES.
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.