Eine fremde Missionarin aus Dänemark kümmerte sich während der dunkelsten Stunden des frühen 20. Jahrhunderts um meine Großmutter. Dafür bin ich Maria Jacobsen sehr dankbar. Dass es mich heute überhaupt gibt, ist ein Beweis für ihre Liebe.
Als Hurrikan Sandy im Oktober 2012 über New York City hinwegfegte, kamen südlich der 42. Straße das öffentliche Leben und auch mein berufliches nicht nur wegen des Stromausfalls zum Erliegen. Das Gebäude an der Südspitze Manhattans, in dem ich seit dreizehn Jahren als Berufsberater bei einer Bank gearbeitet hatte, wurde überflutet und geschlossen. Ich sah einer ungewissen Zukunft entgegen.
So schnell wie möglich wollte ich mir nun darüber klarwerden, wie es nach dem Sturm mit mir weitergehen würde. Ich könnte meine Beraterstelle aufgeben, doch dann müssten sich die Gekündigten woanders Hilfe suchen, um wieder auf die Füße zu kommen. Ich könnte mich auch beruflich umorientieren und vielleicht noch einmal studieren. Doch meine Therapeutin riet mir, nichts zu überstürzen. Zehn Jahre zuvor hatte ich mich schon mal an sie gewandt. Gemeinsam ergründeten wir, wie sich der Völkermord auf mein Privatleben auswirkte. Ich brauchte Antworten auf die Frage, wie meine Großmutter hatte überleben können und verbrachte damals viel Zeit mit meinem Vater. So fand ich mehr über meine eigene Geschichte heraus.
Unserer Familie war Schreckliches widerfahren. In der vierten Klasse der Mesrobian-Grundschule in Los Angeles brachte man uns bei, dass die osmanischen Türken anderthalb Millionen von unserem Volk abgeschlachtet hatten. Meine Lehrer erweckten bei mir die Vorstellung, meine Anwesenheit in einem amerikanischen Klassenzimmer sei Beweis dafür, dass ich ein Überlebender bin.
Zu Hause erfuhr ich, dass meine beiden Großmütter und Großväter durch den Völkermord zu Waisen geworden waren.
Der Vater meiner Mutter mit Namen Garabed Tonjoukian musste mitansehen, wie berittene Männer den eigenen Vater von einer Apfelplantage in Gesaria, dem heutigen Kayseri in Zentralanatolien, verschleppten. Ihre Mutter Azniv Avakian war noch nicht aus den Windeln heraus, als man sie und ihre Familie mit Gewalt aus Van vertrieb. Als sie älter wurde, arbeitete sie als Hausmädchen in Jerusalem. Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen.
Der Vater meines Vaters mit Namen Haigazoun Chahinian floh 1915 aus Marasch, dem heutigen Kahramanmarasch in der Südtürkei, um sich der französischen Fremdenlegion anzuschließen. Doch wie seine Mutter Maritza Hodoian aus dem Dorf Percheng in der Nähe von Kharbert, dem heutigen Elazig in der Osttürkei, entkam, wusste ich nicht.
Auf der Suche nach einem Grund
In der Hoffnung zu begreifen, warum Menschen einen Völkermord begehen, studierte ich im Hauptfach Psychologie an der Universität von Südkalifornien. Ich ging auch zu einem Psychotherapeuten, um als Patient Erfahrungen aus erster Hand zu sammeln. Nach meinem Abschluss nahm ich eine Stelle als Sachbearbeiter für Bewerbungen im Studierendensekretariat meiner Hochschule an und warb um Absolventen der Mesrobian High School und ihrer Schwesterinstitutionen. Ich liebte es, den Campus mit immer mehr Armeniern zu bevölkern. Dennoch sehnte ich mich danach, den Beruf auszuüben, den ich studiert hatte: Ich wollte Menschen von ihrem Schmerz befreien.
Ich schrieb mich für einen Masterstudiengang in Psychotherapie und Organisationsverhalten in New York City ein. Während eines Praktikums im Berufsberatungszentrum einer Bank in der Innenstadt bekam ich dank kompetenter Mentoren einen tiefen Einblick in die Kunst und die Wissenschaft des Berufsberatens: für mich eine Berufung, die ich „therapy light“ nenne. Gleich nach meinem Abschluss bot man mir eine bezahlte Stelle an. Ich half Angestellten durch dunkle Stunden, bis sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatten. Fünf Fusionen hatten meine Klienten und ich überstanden, doch dann brach Hurrikan Sandy über uns herein und setzte meinem Engagement ein jähes Ende.
Seit dem Ende meiner Schulzeit hatte ich nicht mehr so viel Zeit mit meinem Vater verbracht, keinen so intensiven Austausch mehr gehabt. Eines Tages fragte ich ihn beim Abendessen, wie Medz Mama nach Amerika gekommen sei. Ich wusste kaum etwas über sie außer dem Wenigen, was ich als pflichtbewusster Enkelsohn bei Anrufen zu ihrem Geburtstag beiläufig erfahren hatte. Es machte mich sehr traurig, dass sie zu dem Zeitpunkt, als meine Neugierde erwachte, bereits gestorben war.
Haig Chahinian mit seinem Vater.
Mein Vater schlug mir vor, seine Schwester anzurufen, wenn ich an Einzelheiten interessiert sei. Ich ballte die Hand zur Faust, denn meine Tante ging mir seit meinem Comingout aus dem Weg. Doch ich war bereit, auf sie zuzugehen, um mehr über die Geschichte meiner Großmutter zu erfahren. So wählte ich ihre Nummer. Nach einem kurzen Gespräch stimmte sie einem Treffen zu. Wir unterhielten uns auf ihrem alten gemütlichen Sofa. „Was weißt du über deine eigenen Großeltern“, fragte ich. Sie wurde sehr nachdenklich, blickte hinaus zu den Vögeln, die an der Futtersäule pickten.
Die gütige Dänin
In mir verkrampfte sich alles. Ich lauschte ergriffen, als sie erzählte, wie meine Großmutter von ihrer jüngeren Schwester Schuschan getrennt worden war, die man in ein deutsches Kinderheim gebracht hatte. Sie selbst war im Dorf bei türkischen Nachbarn zurückgeblieben. Der Herr im Haus war ein gemeiner Mann. Sie versuchte zu entkommen, doch er verfolgte sie zu Pferd. Als er sie erwischte und schlug, verlor sie auf der rechten Seite ihr Augenlicht. Sie floh erneut und schaffte es diesmal bis in ein leerstehendes Haus in Kharpert. Dort hielt sie sich sieben Tage versteckt und verhungerte beinahe. Am siebten Tag klopfte eine Frau ans Fenster: Es war Maria Jacobsen. Sie sagte zu meiner Großmutter: „Willst du mit mir kommen? Ich bringe dich an einen Ort, an dem auch andere Kinder sind. Du wirst nicht alleine sein.“ Meine Großmutter mit ihren kurzen braunen Haaren und tiefbraunen Augen nahm die Hand der gütigen Fremden.
Jacobsen hatte ein Waisenhaus aufgebaut und rettete durch ihren unermüdlichen Einsatz viele Kinder vor dem Tod. Die Mittel waren knapp, und so aßen sie fast nur Brot, gerade genug zum Überleben. Zu ihren eigenen Kindern sagte meine Großmutter später „Menk hats, hats, hats, guh sireyink. Took nayik eench guhnek took. [Wir würden das Brot, Brot, Brot herunterschlingen. Und was macht ihr!]“, wenn diese ihr Abendessen nicht anrühren wollten.
Meine Großmutter reiste mit Jacobsen durch den Mittleren Osten in den Libanon. Sie fand ein neues Zuhause bei wohlhabenden Eltern, doch sie vermisste ihre Schwester Schuschan sehr. Als sie erfuhr, dass die deutschen Pflegeeltern Schuschan zur Arbeit in eine Seidenfabrik in Lyon geschickt hatten, verließ sie ihr neugefundenes Heim, um wieder mit ihrer Schwester zusammen zu sein.
Haigs Vater als Kind mit seinen Schwestern und Eltern.
Die Schwestern arbeiteten nun gemeinsam in der Fabrik und fädelten einen Seidenfaden nach dem anderen auf Spulen, eine nicht ganz einfache Tätigkeit für meine Großmutter, die auf einem Auge blind war. Viele Jahre sparten sie ihre Francs für einen Umzug in die „Stadt der Lichter“. Schließlich schafften es die beiden Mädchen aus Percheng nach Paris. Nachdem mein Großvater als Soldat in der französischen Armee gekämpft hatte, arbeitete er am Fließband eines Pariser Automobilherstellers. Meine Großmutter schwärmte gleich nach ihrem ersten Treffen für ihn. „Er war so stattlich“, sagte sie, „Lezoos gabvav [es verschlug mir die Sprache].“ Als ihre Kinder auf der Welt waren, erlangte sie in der Stadt einen gewissen Bekanntheitsgrad als Psychoanalytikerin, obwohl sie nie studiert hatte. Sie sorgte sich um das emotionale Wohlergehen ihrer Nachbarn.
Fürs erste war mein Wissensdurst gestillt und ich verabschiedete mich von meiner Tante. Nachts konnte ich nicht schlafen. Die Geschichte ließ mich nicht los und ich warf mich im Bett von einer Seite auf die andere.
Nicht alle Ereignisse im Westarmenien des Jahres 1915 wurzelten in Hass.
Die fremde Missionarin aus Dänemark kümmerte sich während der dunkelsten Stunden des frühen 20. Jahrhunderts um meine Großmutter. Dafür bin ich Maria Jacobsen sehr dankbar. Dass es mich heute überhaupt gibt, ist ein Beweis für ihre Liebe.
Eine Woche später erhielt ich einen Anruf. Die Abteilung für Berufsberatung in meiner Bank war an einen Dritten verkauft worden. „Würden Sie gern zu unserem neuen Beraterteam gehören?”, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich drehte mich zur Wand und betrachtete ein Bild von meinem Vater als Kleinkind, hinter ihm meine Großmutter, ihre aufrechte Haltung royal anmutend. Ihre Augen – so jedenfalls erschien es mir – strahlten vor lauter Dankbarkeit für ihre Familie. „Ja“, antwortete ich, „Menschen zu helfen liegt mir im Blut.“
Haig Chahinian kam im kalifornischen Long Beach zur Welt. Er ist Berufsberater und lebt mit Ehemann und Tochter in New York City. Zurzeit schreibt er an seinen Memoiren.
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.