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Grégoire Ahongbonon: „Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen“

Grégoire Ahongbonon: „Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen“

Der Aurora-Finalist 2021 Grégoire Ahongbonon ist der Gründer des Vereins St. Camille, der in Westafrika Menschen mit psychischen Erkrankungen hilft und sich für die Abschaffung der unmenschlichen lokalen Praxis einsetzt, diese Menschen in Ketten zu halten. Wir sprachen mit ihm über seine persönlichen Erfahrungen, die ihn zu dieser mutigen Mission inspiriert haben.

Der Moment, der alles veränderte

Ich bin ein Reifenfachmann. Im Alter von 23 Jahren verdiente ich so viel Geld, dass ich einer der wenigen jungen Leute war, die ein eigenes Auto hatten. Aber das hielt nicht lange an. Ich habe so viel verloren, dass ich fast Selbstmord begangen hätte. Als ich Geld hatte, hatte ich viele Freunde, aber als ich alles verlor, wurde ich von allen verlassen. Es war das Schrecklichste, was ich je erlebt habe.

Eines Tages traf ich einen Missionar, der sich die Zeit nahm, mir zuzuhören. Derselbe Priester organisierte eine Pilgerfahrt nach Jerusalem. Er bezahlte mein Ticket und nahm mich mit auf diese Pilgerfahrt. In einer seiner Predigten sagte er, jeder Christ solle sich am Bau der Kirche beteiligen, indem er einen Stein setzt. Daraufhin stellte ich mir die Frage: „Was für einen Stein soll ich setzen?“ 

Zurück in der Elfenbeinküste, wo ich mit meiner Frau lebte, machten wir uns auf die Suche nach unserem Stein. Wir kamen auf die Idee, eine Gebetsgruppe zu gründen. Mit dieser Gruppe gingen wir einmal pro Woche ins Krankenhaus in Bouake, um die Kranken zu besuchen und mit ihnen zu beten. Bei einem Besuch entdeckten wir in einem Zimmer Patienten, die völlig verwahrlost waren. 

In Afrika gibt es keine soziale Sicherheit. Wenn man krank ist und ohne Geld ins Krankenhaus kommt, kümmert sich niemand um einen. Hat man einen Verkehrsunfall, wird man von der Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht, und wenn man keinen Verwandten hat, der sofort kommt, wird man dem Tod überlassen. 

Das wusste ich gar nicht. Als wir in das Krankenhaus kamen und diese verwahrlosten Menschen in ihrem dreckigen Elend sahen, begannen wir, sie zu waschen und nach einer Möglichkeit zu suchen, Medikamente zu besorgen, um sie zu behandeln. Schon bald erholten sich viele dieser Patienten. Diejenigen, die dennoch starben, starben zumindest in Würde. Von diesem Moment an begann ich zu verstehen, warum Jesus sich mit den Armen und Kranken identifizierte. 

Kampf gegen das Stigma

Im Jahr 1990 ging ich eines Tages durch die Straßen und sah einen nackten Geisteskranken, der im Müll wühlte. Psychisch Kranke gelten in Afrika als vom Teufel besessen. Die Menschen glauben, dass sie Hexen sind. Sie glauben, dass sie verflucht wurden. Jeder hat Angst vor ihnen. Auch ich hatte große Angst vor psychisch Kranken. 

Aber als ich diesen Mann ansah, sagte ich mir: Das ist Jesus. Ich entdeckte, dass es sich um Männer, Frauen und Kinder handelte, die wie alle anderen geliebt werden wollten. Ich habe meiner Frau davon erzählt. Wir kauften einen Gefrierschrank, sie bereitete Mahlzeiten zu. Jeden Abend verteilte ich Lebensmittel und frisches Wasser an die Kranken. Das einzige Wasser, das sie tranken, war der Regen, der in die Dachrinnen fiel. In unserem Land gibt es keine öffentlich zugänglichen Entnahmestellen für Trinkwasser. Nach und nach entstand ein Band der Freundschaft zwischen uns und diesen Patienten.

Aber wir mussten noch mehr machen. In der Universitätsklinik von Bouake, wo wir die Kranken besuchten, hatten wir eine kleine Kapelle. Dort sammelten wir die ersten Patienten [mit psychischen Erkrankungen] und behandelten sie mit Würde – natürlich mit Hilfe von Ärzten.

 

„Geh weg, es lohnt sich nicht“

Im Jahr 1993 besuchte der Gesundheitsminister das Krankenhaus. Als er sah, was wir taten, war er so glücklich und sagte: „Ich hoffe, dass Ihr Verein bald in allen Krankenhäusern des Landes aktiv wird, denn wir wissen nicht, was wir mit den zurückgelassenen Menschen machen sollen.“ Ich fragte ihn, ob er uns ein Grundstück auf dem Krankenhausgelände für den Bau unseres Zentrums zur Verfügung stellen könnte. An Ort und Stelle wies er seine Leute an, dies zu tun. Für das erste Zentrum wurde uns ein 2.400 m² großes Grundstück zur Verfügung gestellt. Wir begannen, alle kranken Menschen auf der Straße einzusammeln. 

Als wir immer mehr Erfolge erzielen konnten, haben uns Familien aus den Dörfern angerufen. 1994, am Tag vor dem Palmsonntag, kam eine Frau zu uns. „Helfen Sie mir, mein Bruder ist psychisch krank“, sagte sie. Wir sind kilometerweit mit ihr gefahren, um in ihr Dorf zu gelangen. Dort angekommen, schrie ihr Vater sie an: „Warum hast du die Leute hierher gebracht? Dein Bruder ist bereits verkommen! Geh weg, es lohnt sich nicht!“ Ich sagte, ich würde die Polizei holen, und er bekam Angst. Nach Rücksprache mit dem Dorfoberhaupt öffnete er schließlich die Tür.

Das war ein großer Schock für mich. Vor mir lag ein junger Mann am Boden, wie Jesus am Kreuz, beide Füße und beide Arme mit Drähten gefesselt. Wir haben alles versucht, um den Jungen loszubinden – allerdings vergeblich, denn der Draht hatte sich bereits ins Fleisch gebohrt. Wir waren gezwungen, umzukehren, und am nächsten Tag kehrten wir mit einem Schneidgerät in dieses Dorf zurück. Mit Mühe gelang es uns, ihn zu befreien.

Nachdem wir zurück im Zentrum waren und ihn gewaschen hatten, sah er mich an und sagte: „Werter Herr, ich weiß nicht, wie ich Ihnen und Gott danken soll. Ich weiß nicht, was ich getan habe, dass ich diese Behandlung durch meine eigenen Eltern verdient habe.“ Er verspürte noch immer den Wunsch zu leben, aber er war in einem so schlechten Zustand, dass er nicht überlebte. Aber zumindest starb er in Würde.

Niemand wusste, was zu tun war

Von da an gingen wir quer durch die Dörfer und wurden dabei mit Eindrücken konfrontiert, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Männer, Frauen, Kinder, die in den Wäldern zurückgelassen wurden, angekettet an Bäume. Niemand wusste, was man mit ihnen machen sollte. Wenn ich in ein Dorf gehe und einen Mann oder eine Frau sehe, die an einem Baum angekettet sind, dann sage ich mir, dass es nicht immer die Schuld der Eltern ist, die nicht wissen, was sie tun sollen. 

In den afrikanischen Ländern werden psychisch Kranke von all unseren Behörden ignoriert. In der Elfenbeinküste, wo wir dieses Experiment begonnen haben, leben mehr als 25 Millionen Menschen, aber es gibt nur zwei psychiatrische Krankenhäuser im ganzen Land. Hast du kein Geld, kümmert man sich nicht um dich. In Benin, wo ich herkomme, gibt es nur ein einziges psychiatrisches Krankenhaus. Was machen die Familien dann schließlich? Sie haben keine andere Wahl.

Aber das Schlimmste sind die zahlreichen Sekten, die in allem den Teufel sehen. Da psychisch Kranke als besessen gelten, werden sie von den Eltern an Bäume gekettet. Die Behandlung besteht darin, den Körper leiden zu lassen, um den Teufel auszutreiben. Die Patienten werden geschlagen, bekommen kein Essen und kein Wasser. Sie werden drei oder sogar vier Tage lang in diesem Zustand gehalten. Diese abscheuliche Praxis hat mich dazu gebracht, mein Leben diesen Menschen zu widmen.

 

Einen eigenen Beitrag leisten

Zu Beginn hatten wir in der kleinen Kapelle etwa 40 Patienten. Das Essen wurde von einer externen Person gekocht. Aber eines Tages hatte ich nicht mehr genug Geld, um diese Person zu bezahlen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich versammelte alle Kranken und sagte zu ihnen: „Betet für mich, denn die Situation wird immer schwieriger. Wir können es uns nicht mehr leisten, eure Köchin zu bezahlen.“ Eine Frau stand auf und sagte: „Wenn ich nicht krank war, habe ich zu Hause gekocht. Können wir nicht selbst kochen?“

Mir wurde von da an klar, dass sich die Patienten selbst in diese Mission einbringen mussten. Einige dieser Patienten waren junge Menschen, Studierende, Schülerinnen und Schüler, die ihren Schulabschluss gemacht hatten. Wir haben mit einer Krankenpflegeschule eine Vereinbarung getroffen, dass die Schule diese Leute ausbilden wird. Viele von ihnen wurden Krankenpflegekräfte und helfen nun bei der Behandlung anderer Menschen.

Es sind Menschen, die man zuvor vollkommen vernachlässigt hat. Jetzt sind sie die Hände Gottes, die sich um andere kümmern. Sie fahren durch die Straßen und sammeln andere kranke Menschen auf. Sie gehen in die Dörfer, um die Kranken von ihren Ketten zu befreien und sie zu heilen. Ich danke dem Herrn, dass sich die Haltung der Menschen allmählich ändert. Es gibt noch viel zu tun.

Als ich von der Entstehungsgeschichte von Aurora erfuhr, war ich sehr begeistert, mehr über diese Bewegung zu erfahren. Das Leiden des armenischen Volkes ist vergleichbar mit dem Leiden psychisch Kranker, und das wird bis heute nicht anerkannt. Aber es gibt Menschen, die sie weiterhin unterstützen, wie das armenische Volk, das so viel Leid ertragen musste.

Der von Grégoire Ahongbonon gegründete Verein St. Camille hat bereits rund 100.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen geholfen. Um furchtlosen Heldinnen und Helden von heute wie ihm dabei zu helfen, ihre lebensverändernde Arbeit fortsetzen zu können, unterstützen Sie bitte Aurora unter auroraprize.com/de/donate.