Eva Harut

Eva Harut

Wenn Eva Harut von ihrer Urgroßmutter erzählt, verblasst die Welt um einen herum und man hört, wie die Räder eines Karrens über die dunklen Straßen der Stadt Erzurum in Richtung Kars rollen. Ein Kurde schiebt ihn, neben ihm ein dreijähriges Mädchen gekleidet wie eine Türkin. Die Überlebensgeschichte ihrer Urgroßmutter Ripsime trug Eva lange Zeit mit sich herum, bis sie sich entschloss, die Geschichte zum 100. Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern aufzuschreiben. Eva Harut lebt und arbeitet in Dresden.  

Als Journalistin, die für das armenische GALA TV berichtet, ging ihr das Schreiben leicht von der Hand. Von Beruf ist Eva Harut jedoch Künstlerin, die an der Jerewaner Staatsakademie der Bildenden Künste ihr Diplom mit Auszeichnung verteidigte. Heute macht sie ihr Meisterschülerstudium an der Dresdener Kunsthochschule, das herausragenden Absolventen eine Vertiefung ihres Studiums ermöglicht. Neben dem Studium hält sie selbst Vorträge und organisiert diverse Projekte mit angesehenen Künstlern wie der Professorin Mariana Smith aus den USA. „Mariana Smith und ich haben uns von Anfang an gut verstanden und unser Wirken als Künstler hat viel Gemeinsames. Jetzt planen wir die Metamorphosen weiter zu entwickeln zum Thema „Metamorphosis. The Human History“.

Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Jerewan, Oktober 2014. Persönliche Veranstaltung von Eva Harut „Die Realisation“.

Vor ihrer Abreise nach Deutschland arbeitete sie jahrelang in der Akademie der Bildenden Künste in Gjumri, ihrer Heimatstadt. Dort entstand 2011 die Idee für ihr erstes großes Projekt „Metamorphose“. „Das Leben in Gjumri ist nicht einfach. Viele Menschen, insbesondere Frauen, beschweren sich über ihre Situation, aber nur wenige unternehmen etwas dagegen“, sagt Eva Harut. „In dem Projekt zeigte ich, wie andere Frauen ihre Probleme überwunden haben.“ Damit war sie die erste Frau in Armenien, die eine Diskussion über die Rolle der Frauen in der armenischen Gesellschaft anregte.

Ein weiteres Projekt von Eva Harut heißt „La Realtà“. „Die Botschaft des Projektes ist, dass wir durch unsere Denkweise unsere Realität erschaffen.“ Das Projekt war so erfolgreich, dass es mehrfach in Jerewan, Moskau und Dresden gezeigt wurde.

 Ripsime Betnesian. Eine Illustration von Mariana Smith.

Das frisch vermählte Paar und das Ende eines Traums

Die Urgroßmutter Ripsime Betnesian stammte aus einer kultivierten Familie der Stadt Erzurum. Um 1910 heiratete Ripsime einen armenischer Offizier namens Lujs Paronian, der jedoch nach kurzer Zeit an die persische Front geschickt wurde. Seitdem hatte die Familie nichts von ihm gehört. „Meine Urgroßmutter Ripsime hatte damals drei Töchter: Varsik, die drei Jahre alt war und die Zwillinge Aghavni und Lusaber, die etwa sechs Monate alt waren. Ende 1914 wurden alle sieben Brüder von ihr zur Armee einberufen. Ripsime blieb mit ihren drei Kindern, der Schwester Mariam und ihren Eltern allein zurück. Oft verbrachten sie die Abende gemeinsam mit den türkischen Nachbarn. Eines Abends sagte eine Nachbarin: ‚Wenn ihr weggeht, krieg ich den Teppich‘. Eine andere fügte hinzu: ‚Und ich den Spiegel.‘ Zwar war das alles halb scherzhaft gemeint, aber es schaffte eine angespannte Atmosphäre“, kommentiert Eva Harut.

„Eines Tages sagte eine der türkischen Nachbarinnen, die auch Ripsimes Freundin war: ‚Nimm deine Kinder und geh weg! Sei keine Närrin, dein Mann kommt nicht mehr. Doch Ripsime wollte das nicht glauben. Auch für ihren Vater Hovhannes Agha war es unvorstellbar, dass seine türkischen Kunden zur Gewalt fähig sein könnten. Hovhannes Agha (der Reiche) besaß in Erzurum einen großen Teppichladen und war bekannt in der Stadt.“

Der Zug nach Russland. Illustration von Mariana Smith für das Buch „Eine Woche im Teppich“.

Wie die türkische Nachbarin ihrer Freundin Ripsime das Leben rettete

Erst als die türkischen Soldaten die Häuser der Armenier nach Wertsachen zu durchsuchen begannen, wurde ihnen der Ernst der Lage bewusst. „Zunächst versteckten sie einige im Hof, andere im Haus, doch irgendwann verstanden sie, dass nicht die Wertsachen, sondern ihr Leben auf dem Spiel stand“, sagt Eva Harut.

Zusammen mit anderen Familienangehörigen machte sich Ripsime auf den Weg nach Kars, um von dort aus den Zug über Gjumri nach Russland zu nehmen. 

„Sie wurden jedoch aufgehalten und mussten einen anderen Weg über den Fluss Araks nehmen. Meine Großmutter weinte immer an dieser Stelle, wenn sie erzählte, was passiert war. Die Armenier waren zu Fuß unterwegs, und rannten so gut sie konnten, aber die türkischen Soldaten, die auf ihren Pferden ritten, holten sie ein. Sie köpften die fliehenden Armenier, ganz gleich ob Frau, Greis oder Kind. An mehr konnte sich Ripsime nicht erinnern, als sie in einem dunklen und engen Raum zu sich kam. Sie befand sich bei ihrer türkischen Nachbarin, der die Familie Haus und Hof überlassen hatte. Diese Türkin muss wahrscheinlich durch ihren Mann, der Offizier war, in Erfahrung gebracht haben, dass die Armenier aus Erzurum über den Fluss Araks fliehen wollten. So machte sie sich auf den Weg, um zu sehen, wie es Ripsime ging. Sie fand Ripsime ohnmächtig am Ufer zusammen mit ihrer Mutter und den Kindern, die neben ihr weinten“, erzählt Eva Harut.

„Sie kniete nieder, um zu sehen, ob sie noch lebt. In diesem Augenblick fragte ein türkischer Soldat: ‚Was machst du?‘ Um Ripsimes Leben zu retten, antwortete sie: ‚Ich nehme bloß ihr Gold‘. Daraufhin ließ der türkische Soldat sie in Ruhe. Die weinenden Zwillinge versteckte sie hinter einem Busch, denn sie zogen die Aufmerksamkeit der Tyrannen auf sich. Sie wartete ab, bis es dunkel wurde. Auf einem Karren, den sie von einem Kurden beschaffen konnte, brachte sie Ripsime, ihre alte Mutter und das dreijährige Kind Varsik zu sich nach Hause, wickelte die beiden Frauen in Teppiche ein, und legte sie zwischen zahlreiche andere Teppichrollen. Die dreijährige Varsik kleidete sie wie ihre eigenen Kinder und gab sie als solches aus. Die Zwillinge ließ sie jedoch am Ufer unter dem Busch liegen. Das konnte sich meine Urgroßmutter Ripsime nicht verzeihen und trauerte ihnen ihr Leben lang nach“, sagt Eva Harut. 

Zweimal täglich durchsuchten Soldaten das Haus der Nachbarin, die den richtigen Moment abpassen musste, um ihren armenischen Freunden etwas zu Essen zu bringen. „Eines Tages warnte sie ihr Ehemann: ‚Setz deinem Treiben ein Ende. Die Lage ist sehr prekär‘. Mit den restlichen Schmucksachen, die Ripsime noch besaß, bezahlte die Türkin einen Kurden, der sie nachts auf einem Karren nach Kars brachte.“ Die Türkin gab ihnen etwas Brot und Wasser mit und sagte zur kleinen Varsik, sie dürfe weiterhin nur Türkisch reden. Was mit Ripsimes Vater Hovhannes Agha und den Brüdern passiert war, konnte man nur erahnen.

                      Aharon Schiroian. Ripsimes zweiter Ehemann, viele Jahre später in Gjumri. 

Die Worte eines russischen Offiziers geben Ripsime neuen Mut 

Der Zug nach Russland war voller Armenier, hauptsächlich alte Leute, Frauen und Kinder. Der einzige junge Mann namens Aharon Schiroian saß entmutigt in einer Ecke, besorgt um seine Familie. Er vermisste seine Frau und seinen kleinen Sohn. Die Fahrt im Zug war anstrengend und dauerte mehrere Wochen. Eine ansteckende Krankheit breitete sich indessen im Zug aus. Viele Reisende starben und ihre Leichen wurden an Stationen zurückgelassen. Auch die dreijährige Varsik erkrankte. Aharon kümmerte sich um das Mädchen, als wäre es sein eigenes, während die Mutter Ripsime sich nach dem Tod sehnte. „In einer dieser Stationen betrat ein russischer Offizier ihren Waggon. Er hatte eine Narbe im Gesicht, die sich bei meiner Urgroßmutter eingeprägt hatte. Als sein Blick auf sie fiel, sagte er: ‚Was du verloren hast, ist verloren. Jetzt musst du nach vorne schauen. Wenn du es in diesen Zug geschafft hast, bist du stark genug, um weiterzugehen‘. Diese Worte gaben Ripsime wieder Kraft, erzählte meine Großmutter später.“

Lusja. Die zweite Tochter von Rispime, die in Krasnodar zur Welt kam.

Das Leben geht weiter im russischen Krasnodar

In Krasnodar angekommen kam Varsik ins Krankenhaus. Es war Krieg, zusätzliches Essen und Schlafplätze gab es dort keine. Ein Arzt brachte Ripsime, die auf dem Boden neben dem Krankenbett ihrer Tochter lag, jeden Abend einen Becher warmes Wasser, damit sie wenigstens irgendwas zu sich nahm. Nach einigen Tagen wurde Varsik gesund und sie zogen in eines der kleinen Holzhäuser, die für die Flüchtlinge bereitgestellt worden waren. Sie teilten sich zu viert einen kleinen Raum. Aharon wich die ganze Zeit nicht von ihrer Seite und hielt nach einem Jahr um ihre Hand an. „Es war eine andere Verbundenheit, die die beiden hatten“, sagt Eva Harut. „Sie waren beste Freunde und erst dann ein Paar.“ Ripsime bekam mit ihm zwei Söhne und eine Tochter, Lusja, die Großmutter von Eva Harut. Aharon fand eine Stelle als Buchhalter und konnte seine neue Familie gut versorgen.

Um weitere Verwandte zu finden, schrieben die armenischen Flüchtlinge die Namen der Gesuchten auf kleine Zettel und verteilten sie untereinander. Auf diese Weise fanden sie Aharons Mutter und Ripsimes Schwester Mariam. Sie lebte in Gjumri, wo sie geheiratet und ein Kind bekommen hatte. Ripsimes Mutter ging daraufhin zu Mariam nach Armenien und bat ihre Tochter nachzukommen. Sie verkauften das Haus in Krasnodar und zogen ebenfalls nach Gjumri. „Immer wenn meine Großmutter Lusja die Überlebensgeschichte ihrer Mutter erzählte, weinte sie. Sie sprach von den Türken, die ihnen alles weggenommen hatten, aber sie erzählte auch von der türkischen Nachbarin, die das Leben ihrer Mutter und das der Tochter rettete. Sie war ihr aufrichtig dankbar dafür.“

Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.

Titelbild: Sergey Milyukov