„Ich befand mich in einer äußerst schwierigen Lage in Konya: Als ob ich am Ufer eines Flusses säße und keine Möglichkeit hätte, auch nur einen zu retten. Statt Wasser floss Blut im Fluss, und Tausende von unschuldigen Kindern, Alten, hilflosen Frauen, kräftigen Jungen flossen in diesem Blutstrom ins Nichts. Ich habe gerettet, was ich mit meinen Händen und Nägeln festhalten konnte. Die übrigen, so glaube ich, sind dahingeflossen, ohne Hoffnung auf Wiederkehr.“Diese Zeilen stammen aus den Memoiren des Gouverneurs der osmanischen Provinz Konya, Celal Bey, die 1918 in der Zeitung Vakit abgedruckt wurden.
Er war einer der wenigen, der sich gegen die offiziellen Anordnungen während des Völkermordes an den Armeniern auflehnte.
Die Zahl derer, die Celal „mit seinen Händen und Nägeln“ retten konnte, war beträchtlich. Konya war eine der Durchgangsstationen für die Deportierten: Dort wurden die Armenier aus den Orten im Westen des Osmanischen Reiches zusammengetrieben, bevor sie den Todesmarsch in die Syrische Wüste antreten mussten. Während seiner viermonatigen Amtszeit gelang es Celal, Tausende von Armeniern vor der Deportation zu retten.
Celal war der Sohn eines Beamten im Finanzministerium und auch Enkelsohn einer der Töchter von Sultan Abdülhamid. Er machte seinen Abschluss an der angesehenen Mülkiye-Schule für Politologie, arbeitete als Lehrer, bekleidete hohe Ämter im Kultusministerium und wurde zum Gouverneur verschiedener Provinzen ernannt: zunächst Erzurum, danach Edirne und schließlich Izmir. Er war von Dezember 1911 bis Juli 1912 Innenminister und von Januar bis Juni 1913 Landwirtschaftsminister.
Celal Beys Frau Rukia
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Celal Gouverneur von Aleppo. Als die Deportationen begannen, glaubte Celal, es handele sich um vorübergehende Maßnahmen, die kriegsbedingt ergriffen worden seien. „Ich hätte mir nie vorzustellen gewagt, dass eine Regierung die Auslöschung ihrer eigenen Bevölkerung auf eine solche Weise veranlassen könnte und so ihre eigene Grundlage vernichtet, nämlich die Menschen, die doch als größter Schatz des Landes zu betrachten sind“, schreibt er in seinen Memoiren. Er sah sich getäuscht und beantragte sogar in einem Telegramm die „Bewilligung von Mitteln, um Häuser zu bauen und Armenier darin anzusiedeln“.
Celal brauchte nicht lange, um zu merken, dass die Deportationen zur Vernichtung der Armenier gedacht waren.
Er versuchte nicht nur, die gnadenlosen Anordnungen „abzumildern“. Vielmehr war er bereit, ein großes Risiko einzugehen, um das Töten zu stoppen. Er weigerte sich, die Armenier aus Antiochia zu deportieren und versuchte, einige enge Freunde zu retten. Celal sorgte dafür, dass die Parlamentsabgeordneten Krikor Zohrab und Vartkes Serengulian, denen man vor einem Militärgericht in Diyarbakir den Prozess machen wollte, in Aleppo bleiben konnten. „Ich konnte sie nicht eigenhändig in den Tod schicken […]. Ich schrieb nach Istanbul und bat darum, dass sie in Aleppo bleiben dürften. Ich erhielt keine Antwort, doch ich versprach ihnen, dass ich sie nicht gehen ließe, solange ich in Aleppo sei. Ich hielt mein Wort“, erinnert er sich in seinen Memoiren. Zohrab und Serengulian wurden nach Celals Abreise abtransportiert und ermordet, noch bevor sie ihr Ziel erreichten.
Celal schickte ein „geheimes und persönliches“ Telegramm an Innenminister Talat mit folgendem Inhalt: „Die angestrebte Vernichtung der Armenier wird ein Verlust für dieses Land sein, von dem es sich lange Zeit nicht erholen wird. Kämen all unsere Feinde auf der Welt zusammen und dächten monatelang darüber nach, wie sie uns am besten schaden könnten, dürften sie wohl kaum einen Plan ersinnen, der teuflerischer wäre als dieser.“
Celal reiste nach Istanbul, um seinen Standpunkt persönlich darzulegen. Doch keiner hörte zu.
Celal teilte seine Sorgen über das Schicksal der Armenier und die erlassenen Anordnungen mit dem amerikanischen und italienischen Konsul in Aleppo, denen er in Freundschaft verbunden war. Er bat die Diplomaten, ihren Regierungen den Ernst der Lage zu vermitteln, damit diese ihren Einfluss bei der Hohen Pforte geltend machten, um die Massaker zu verhindern. Mit derselben Bitte wandte er sich an den deutschen Konsul in Aleppo.
Unterdessen versuchte der Ortsverband des Komitees für Einheit und Fortschritt, Celal mit verschiedenen Mitteln seines Amtes zu entheben. Man legte ihm sogar „Hochverrat am Vaterland“ zur Last. Eine Untersuchung brachte zu Tage, dass alle Anschuldigungen „haltlos und falsch“ waren. Dennoch wurde Celal kurz darauf aus der Provinz Aleppo abberufen.
Celal Beys Töchter Atifete (links) und Süheyla (rechts).
Zunächst versetzte man ihn in die Präfektur Ankara und wenig später in die Präfektur Konya. Er bat die Verantwortlichen, einen anderen zu finden und ihn zu ersetzen, „sollten die Armenier von Konya auch deportiert werden“.
Jeden Tag brachten Züge Tausende von Armeniern nach Konya, während Anordnungen erlassen wurden, ihren Weitertransport nach Deir ez-Zor zu beschleunigen.
Zunächst versuchte Celal, die Abfahrt der Konvois zu verzögern, indem er behauptete, es gebe nicht genug Waggons, um so viele Menschen zu verladen.
Doch Celal suchte nicht nur Vorwände, hinter denen er sich verstecken konnte: Er gab klar zu verstehen, dass er sich außer Stande sehe, zu einem Unternehmen beizugragen, das seiner Meinung nach zum Nachteil des Landes sei.
Das Zentralkomitee für Einheit und Fortschritt drohte ihm mit Entlassung und forderte, er solle „seine persönliche Meinung zugunsten des nationalen Ideals zurückstellen“, worauf er erwiderte: „Diese Gräueltaten als nationales Ideal zu bezeichnen ist die größtmögliche Beleidigung und Herabwürdigung der Nation.“ Celal hielt dem Druck weiter stand und es gelang ihm, beinahe 30.000 Armenier in Konya zu behalten, indem er „jede noch so kleine Gelegenheit nutzte, die sich bot“.
Am 3. Oktober 1915 enthob man ihn des Amtes. Seine Abreise markierte den Anfang vom Ende der Armenier in Konya. Kaum war Celal aus dem Weg, berichteten örtliche Behörden an das Innenministerium, dass 10.000 Armenier innerhalb von drei Tagen aus Konya deportiert worden seien.
Celal Bey mit seiner Frau Rukia und seinen Kindern.
Nach seiner Entlassung setzte man ihn in kein neues Amt ein. Seine Familie kämpfte jahrelang ums finanzielle Überleben. Mit Ende des Krieges brach für Celal eine neue Zeit an. Es wurden händeringend nach „schuldlosen“ Beamten gesucht, die nicht in die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstrickt waren. Im November 1919 ernannte man Celal zum Gouverneur von Adana, das zu der Zeit unter französischer Kontrolle stand. Mehrere Quellen belegen, dass sowohl die türkische als auch die armenische Bevölkerung der Stadt seine Ernennung begrüßte.
Obwohl Celal die Besetzung von osmanischem Gebiet ablehnte und so seine Loyalität gegenüber dem Repräsentativrat unter Vorsitz von Mustafa Kemal bekräftigte, war er doch besorgt, die Armenier könnten während des Kampfes gegen die Alliierten zum Ziel werden. Es heißt, er habe in einem geheimen Brief an Mustafa Kemal seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht und darum gebeten, „die Armenier Kilikiens nicht anzugreifen“.
Celal Bey mit seinen Töchtern Süheyla und Atifete und anderen engen Verwandten.
Nach seiner Amtszeit als Präfekt von Adana wurde Celal zum Bürgermeister von Istanbul ernannt und bekleidete das Amt von Juli 1921 bis März 1922. Er starb am 11. Februar 1926. Er bleibt in Erinnerung als Beamter, der sich sein Gewissen und seine Ehre in den dunkelsten Jahren des Landes bewahrte. Vor einhundert Jahren schon richtete Celal folgende Worte an all die Nein-Sager von heute: „Die Frage lässt sich nicht leugnen oder verzerren: Das Ziel war die Auslöschung und sie wurden ausgelöscht.“
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.
Bilder mit freundlicher Genehmigung von mehmetcelalbey.com