Aryeh Neier: „Das Blutvergießen geht weiter“

Aryeh Neier: „Das Blutvergießen geht weiter“

Aryeh Neier leitete von 1993 bis 2012 als Präsident die Open Society Foundations, ehemals Open Society Institute, eine Gruppe von Stiftungen des amerikanischen Milliardärs George Soros, die für eine offene Gesellschaft eintritt. Vor dieser Zeit war er zwölf Jahre geschäftsführender Direktor bei Human Rights Watch, der Nichtregierungsorganisation, die er 1978 mitgründete. Zuvor hatte er fünfzehn Jahre bei der Amerikanischen Bürgerrechtsunion gearbeitet, acht davon als geschäftsführender Direktor auf Bundesebene. Er war über zehn Jahre Dozent der Rechtswissenschaften an der Universität von New York und lehrte ebenso an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Georgetown-Universität wie auch der Universität im italienischen Siena. Seit 2012 ist er Gastprofessor an der Pariser Hochschule für internationale Angelegenheiten, einer Fakultät von Sciences Po. Er hat zahlreiche Schriften veröffentlicht und sieben Bücher verfasst. Wir haben mit Aryeh Neier über aktuelle Menschenrechtsverletzungen gesprochen und über Maßnahmen, die Regierungen und Nichtregierungsorganisationen zum Schutz der Menschen treffen sollten.

А.Y.: Sie verfügen über viel Erfahrung, wenn es um das Eintreten für Menschenrechte geht. Welche Menschenrechtsverletzungen sind ihrer Meinung nach heute die größte Gefahr?

A.N.: Leider gibt es sehr viele bewaffnete Konflikte auf der Welt, allen voran der inzwischen seit sechs Jahren währende Konflikt in Syrien mit seinen verheerenden Auswirkungen. Daneben gibt es viele Konflikte, die seit Jahren andauern, unter anderem in Afghanistan und Pakistan, auch wenn es sich dort eher um eine Aneinanderreihung von Zusammenstößen mit Konfliktpotenzial handelt. Schließlich hätten wir noch Afrika mit dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik, Boko Haram in Nigeria und den Al-Shabaab-Milizen in Somalia sowie den angrenzenden Ländern. Wir müssen uns mit vielen Krisenherden in allen Teilen der Welt auseinandersetzen.

А.Y.: Wie steht es um Menschenrechtsverletzungen sowie der Verantwortung und Verantwortlichkeit von Regierungen? Wird sich etwas ändern, wenn Regierungen mehr Verantwortung übernehmen? Welche Schritte sollten sie unternehmen?

A.N.: Vor elf Jahren einigte sich der UN-Sicherheitsrat auf das Konzept „Verantwortung zum Schutz“, in dem es heißt, Regierungen hätten ihre Bürger zu schützen. Darin wurde auch festgehalten, unter welch außergewöhnlichen Umständen die internationale Gemeinschaft eingreifen soll. Leider hat sich heute Zynismus breit gemacht. Mehrere Länder griffen vor einigen Jahren in den Konflikt in Libyen ein, der sich seitdem verschlimmert hat. Nun herrscht die Sorge vor, dass Eingreifen die Dinge nur schlimmer macht.

Das ist eine der Schwierigkeiten in Syrien. Die Zurückhaltung der Vereinigten Staaten geht gewiss auf die schlechten Erfahrungen in Libyen zurück. Es ist heute sehr schwierig geworden, sich auf internationaler Ebene auf gemeinsame Strategien zum Umgang mit den verschiedenen Konflikten zu einigen, was ein effektives Eingreifen beinahe unmöglich macht.

Einige Fortschritte, wenn auch in begrenzter Form, hat es in den letzten 100 Jahren gegeben. Davor konnte man sich noch darauf berufen, nicht zu wissen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord im Gange waren. Dies ist nicht länger der Fall. Heute gibt es viel mehr Informationen durch Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und verschiedene internationale Institutionen.

Zur Zeit des Völkermordes an den Armeniern gab es nur vereinzelte Berichte über die Vorgänge, unter anderem vom amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau im Osmanischen Reich, die er nach Washington schickte. Doch es gab keine Berichterstattung durch Medien oder Menschenrechtsorganisationen, lediglich durch einige Gruppen, die sich spontan gebildet hatten. Während des Zweiten Weltkrieges wusste man zumindest teilweise um die Vorgänge in den Todeslagern, doch die meisten Menschen behaupteten, nichts zu wissen. Und heute? Trotz aller Erkenntnisse und Institutionen, über die wir verfügen, scheint ein effektives Eingreifen in bestimmten Situationen noch immer unmöglich.

А.Y.: Wie kamen Sie auf die Idee zur Gründung von Human Rights Watch?

A.N.: Die Anfänge 1975 waren bescheiden. 35 Nationen aus Europa und Nordamerika unterzeichneten die Schlussakte von Helsinki und in Moskau formierte sich eine Gruppe, um zu überwachen, ob die Sowjetunion die Bestimmungen zur Achtung der Menschenrechte auch wirklich einhielt. Die Verantwortlichen vor Ort verschwanden schon nach kurzer Zeit im Gefängnis. Einige von uns in den USA beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen und diejenigen zu beschützen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Nach und nach wurden wir mehr. Die Ausweitung der Arbeit von Human Rights Watch auf bewaffnete Konflikte zählt zu den wichtigsten Schritten. Davor galten unsere Bemühungen ausschließlich politisch motivierter Inhaftierung und Folter. 

А.Y.: Die Open Society Foundations sind weltweit tätig und konzentrieren sich auf Jugendliche, Bildung, Redefreiheit, Regierungen und ihre Verantwortlichkeit, Gesundheitsvorsorge, Recht und Gerechtigkeit. Gibt es ein Projekt, das Ihnen besonders wichtig ist?

A.N.: Ich wurde während des Bosnienkrieges Präsident der Stiftungen. Unser vorrangiges Ziel war die Rettung von Zivilisten. Dafür stellten wir 50 Millionen Dollar bereit. Wir leisteten humanitäre Hilfe und setzten uns für Menschenrechte ein. Die Wiederherstellung der Wasserversorgung im belagerten Sarajewo war eines unserer Projekte, das vielen das Leben rettete, die ein leichtes Ziel für Heckenschützen waren, wenn sie mit Kanistern beladen von den Wasserstellen kamen.

Was die Menschenrechte angeht, befürworteten wir die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien. Darüber hinaus fallen mir Projekte zur frühkindlichen Förderung und zur Gesundheitsvorsoge ein. Auch Stipendienprogramme haben viel Gutes bewirkt. Nach dem von Studenten angeführten Aufstand 1988 in Myanmar gegen die Militärdiktatur schloss diese die Universitäten. Wir ermöglichten zahlreichen jungen Menschen ein Studium außerhalb ihrer Heimat. Heute befindet sich das Land im Übergang zur Demokratie.

А.Y.: Nach vierzig Jahren Arbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte, in welche Richtung entwickelt sich ihrer Meinung nach die internationale Bewegung?

A.N.: In der Frühphase des Kalten Krieges spielte sich der Konflikt zwischen Ost und West in erster Linie auf wirtschaftlicher Ebene ab: Kapitalismus gegen Kommunismus. Erst durch die Menschenrechtsbewegung verlagerte sich das Hauptaugenmerk auf den Gegensatz zwischen Freiheit und Unterdrückung.

Westliche Staaten, allen voran die USA, unterstützten Militärdiktaturen weltweit, weil sie antikommunistisch waren. Die Menschenrechtsbewegung aber zeigte die Widersprüche dieses Vorgehens auf und brachte den Westen so in Erklärungsnot. Als Folge davon beendete dieser seine Unterstützung und ermöglichte so das Entstehen von Bewegungen, die ihre Länder von der Unterdrückung befreiten.

In den Neunzigerjahren glaubten wir, das goldene Zeitalter der Menschenrechte breche an, doch der Jugoslawienkrieg, der Völkermord in Ruanda, Probleme in Afrika und der internationale Terrorismus belehrten uns eines Besseren. Heute beobachten wir, wie Regierungen immer weniger für Menschenrechte eintreten und eine Führungsrolle einnehmen. So liegt es an den Nichtregierungsorganisationen, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, obwohl ihr Einfluss auf die Politik zurückgegangen ist. Es gibt zwar Fortschritte, aber auch immer wieder schwere Rückschläge.

A.Y. Welche Erwartungen haben Sie an die nächste Generation?

A.N.: Heute gibt es viele gut ausgebildete junge Leute. Wann immer etwas schief läuft auf der Welt, tröstet mich der Gedanke, dass es ebendiese gut ausgebildeten Menschen gibt, die mit vollem Einsatz hinter der guten Sache stehen. Ich hoffe, sie haben die Fähigkeiten und die Vorstellungskraft, die Dinge zu ändern. Zu meiner Anfangszeit damals machten wir Fehler, denn wir schöpften unsere Möglichkeiten nicht aus, weil uns die Ausbildung fehlte. Unsere Lehrmeisterin war die tägliche Arbeit. Unsere Kollegen heute können viel effektiver arbeiten.

A.Y.: Wer hat Sie im Laufe der Jahre inspiriert?

A.N.: In den Fünfzigerjahren lebte ein Mann namens Norman Thomas in den Vereinigten Staaten. Sechsmal bewarb er sich um das Amt des Präsidenten als Kandidat der kleinen sozialistischen Partei, einer sehr anti-kommunistischen Partei. Er sprach über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion und Bürgerrechtsthemen in den Vereinigten Staaten. Am 23. Oktober 1956 kam es zum Volksaufstand in Ungarn. Imre Nagy übernahm das Amt des Ministerpräsidenten und bildete eine Mehrparteienregierung. Seine neue Außenministerin Anna Kéthly flog noch im November nach New York, um bei den Vereinten Nationen Schutz vor der Sowjetunion zu erbitten. Nach ihrer Ankunft traf sie sich umgehend mit Norman Thomas, in dem sie einen Unterstützer sah. Damals hielt er einen Vortrag vor 2.000 Zuhörern an der Cornell University. Anschließend traf er sich mit Studenten in einem der Wohnheime und sprach die ganze Nacht über die Vorgänge in Ungarn. Er legte dar, wie die Welt die Revolution unterstützen sollte. In jener Nacht politisierte ich mich und engagierte mich fortan in der Studentenbewegung. 

Auch Martin Luther King hat mich stark beeinflusst. In meinem ersten Artikel für die Studentenzeitung schrieb ich über den Busboykott von Montgomery. Später bot sich mir die Gelegenheit, ihn zu einer Veranstaltung einzuladen und bei der Organisation zu helfen. Martin Luther King und Norman Thomas haben mich inspiriert, mein Leben dem Schutz von Menschenrechten zu widmen.

A.Y.: Am 24. April 2016 wird zum ersten Mal der Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit verliehen. Was denken Sie über diesen neuen humanitären Preis?

A.N.: Bei meinem ersten Gespräch mit Ruben Vardanyan stellte ich mir die Frage, wie viele Menschen es wohl gebe, die den Aurora-Preis verdienen. Nachdem ich jedoch die vielen Nominierungen durchgesehen hatte, wusste ich, dass die Zahl beachtlich war. Ich habe mich sehr gefreut über die Gelegenheit, die Nominierungen prüfen zu dürfen, auch wenn es ein extrem schwieriger Prozess war.

Der Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik hat Muslime und Christen entzweit. Einer der Nominierten ist Pater Bernard Kinvi, ein junger katholischer Priester, den ich auch persönlich kennenlernen durfte. Er holt Muslime aus anderen Landesteilen in seine Kirche und bietet ihnen Schutz. Ich bin mir fast sicher, dass diese Menschen heute tot wären, hätte er dies nicht getan und dabei sein eigenes Leben und das seiner Mitarbeiter in der Mission aufs Spiel gesetzt. Für genau solche Menschen ist der Preis gedacht. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird durch den Aurora-Preis Menschen größere Aufmerksamkeit zuteil, die auf diese Weise Menschenleben gerettet haben.

A.Y. Was möchten Sie der Welt über die Förderung der Menschlichkeit sagen?

A.N.: Seit dem Völkermord an den Armeniern 1915 und dem Holocaust an den Juden und Roma im Zweiten Weltkrieg haben die Staaten der Welt viele internationale Vereinbarungen unterzeichnet und viele internationale Institutionen geschaffen, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Hinzu kommt, dass wir heutzutage sehr viel früher von solchen Verbrechen und ihren Einzelheiten erfahren als jemals zuvor. Und dennoch führen uns die Ereignisse in Syrien schmerzhaft vor Augen, dass selbst dies nicht reicht. Das Blutvergießen geht unvermindert weiter. Um diese Verbrechen von vorneherein zu verhindern oder sie wenigstens frühestmöglich zu beenden, brauchen wir Menschen überall auf der Welt, die geschlossen und beharrlich genau dafür eintreten, Menschen, die die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen. Diejenigen, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um andere zu retten, wie zum Beispiel Ärzte in Syrien, die Verwundete versorgen, spielen eine besonders große Rolle bei der Förderung der Menschlichkeit.