Mirza Dinnayi: „Das ist der beste Job, den man machen kann.“

Mirza Dinnayi: „Das ist der beste Job, den man machen kann.“

Der Aurora-Finalist 2019 Mirza Dinnayi ist ein jesidischer Aktivist, der sich für die Opfer von ISIS einsetzt. Er hat während des Irak-Krieges Hunderte von Frauen und Kindern gerettet. Unter Einsatz seines eigenen Lebens hat Dinnayi selbst Menschen aus von ISIS kontrollierten Gebieten evakuiert und transportiert und danach durch seine Organisation Luftbrücke Irak mit der erforderlichen Behandlung und Unterstützung versorgt.

Sie sind nun ein Aurora-Finalist. Was empfinden Sie dabei?

Ich empfinde eine noch größere Verantwortung gegenüber der Welt, da die internationale humanitäre Gemeinschaft mich als einen der ihren anerkannt hat. Jetzt ist es mein Ziel, ein würdiges Mitglied der Aurora-Familie zu werden.

Wie waren die Reaktionen in Deutschland und im Irak?

Alle, nicht nur die Jesiden, sondern auch Angehörige anderer Minderheiten und das irakische Volk, die von meinen humanitären Aktivitäten wissen, haben ihre Anerkennung ausgesprochen. Freunde meinen, dass eine solche internationale Würdigung meiner Arbeit die Chance auf friedensfördernde Maßnahmen und die Verankerung der Grundsätze des Zusammenlebens innerhalb der irakischen Gemeinschaft selbst stärken und die Stimme des Friedens in unsere Gemeinschaften tragen würde.

Ein humanitärer Helfer zu sein, ist eine sehr anspruchsvolle Berufswahl und wir wissen, dass es nicht Ihre erste war. Haben Sie jemals an Ihrer Entscheidung gezweifelt?

Ich denke, das ist keine wirkliche Entscheidung, sondern Schicksal. Es war mein Schicksal, in einer verfolgten Gemeinschaft geboren zu werden, die über viele Jahrzehnte hinweg einen fortwährenden Völkermord durchlebte. Die Gründung der Luftbrücke Irak war spontan und emotional, als Al-Qaida-Terroristen im Jahr 2007 Jesiden niedergemetzelt haben. Wir haben die Luftbrücke Irak gegründet, um Kinder zu retten. Ich wollte einfach nur helfen, und ich habe es nie bereut, mich für diese schwierige Aufgabe entschieden zu haben.

 Mirza Dinnayi nach seiner Ankunft in Deutschland mit den ersten Kindern, die zur Behandlung ausgeflogen wurden, Düsseldorf, 2007

Was hat Sie dazu inspiriert, anderen zu helfen?

Am Anfang war es das Gefühl, dass man den Opfern von Terror helfen kann. Dann kam der Völkermord an den Jesiden und die darunter leidenden Frauen und jungen Mädchen – da kann man nicht gleichgültig bleiben. Bei einem Helikopterabsturz sah ich den Tod vor meinen eigenen Augen – nicht nur den Tod der anderen, sondern auch meinen eigenen. In diesem Moment wurde mir klar, dass mein Leben eine andere Bedeutung haben müsste. Ich wusste, dass ich mehr Aufgaben zu übernehmen hatte.

Sie sind Familienvater und haben einen sehr anstrengenden Job – das ist nicht einfach. Was war Ihre bisher schlimmste persönliche Erfahrung?

Als Vater muss ich leider sagen, dass ich nicht genug Zeit mit meiner Familie verbringe, und das bedauere ich sehr. Ich muss mehr Zeit mit meiner älteren Tochter verbringen. Sie ist blind und kam als Frühgeborene auf die Welt, weshalb sie viele gesundheitliche Probleme hat. Sie muss sich einer Hämodialyse unterziehen. Manchmal fühle ich mich schuldig, weil ich nicht helfen kann. Meine Frau und meine Verwandten könnten mir vorhalten, dass ich mich um die Behandlung anderer Kinder kümmere, aber nicht um die meiner eigenen. Aber gleichzeitig kennen und respektieren sie meine Prinzipien und Ziele. Deshalb unterstützen sie mich auch. Meine kleine Familie glaubt an das, was ich tue, und opfert ihre eigenen Bedürfnisse, um ihre Solidarität zu bekunden.

Wo finden Sie Kraft und Mut?

Ich denke, die wichtigste Ressource ist die Ausbildung, die ich dank meiner Familie erhalten habe. Als Kind begann ich, Bücher zu lesen, was für meine Gemeinschaft ungewöhnlich war. Ich komme aus einem Dorf, in dem die meisten Menschen Bauern waren, meist ohne Schulbildung. Mein Vater war Geschäftsmann und besuchte jede Woche die Stadt Mosul, um dort Waren hinzubringen. Bei seinen Touren nahm er immer einen von uns mit, damit wir den Papierkram erledigen, denn er konnte weder lesen noch schreiben. Als ich 12 Jahre alt war, hat er mich ermuntert, Bücher zu kaufen und zu lesen. Mit 17 hatte ich schon über 500 Bücher zu Hause. Als Teenager begann ich, Kurzgeschichten und Gedichte wie andere westliche Teenager zu schreiben. Und das war für mich ein Erlebnis, das mir die Augen geöffnet hat.

Hatten Sie jemals Angst davor, Ihr eigenes Leben zu verlieren, während Sie anderen helfen?

Viele Male, aber ich war immer absolut davon überzeugt, dass die Arbeit, die ich mache, noch mehr wert ist.

Welchen Rat würden Sie all jenen geben, die sich für einen Einstieg in die Arbeit im humanitären Bereich interessieren?

Ich würde sagen, dass dies der beste Job ist, den man überhaupt in seinem Leben machen kann. Man sollte sich aber einige wichtige Dinge vor Augen halten: Erwarte keine Dankbarkeit von anderen, sei dir darüber im Klaren, dass selbst die Menschen, denen du geholfen hast, dir auch für noch so kleine Dinge die Schuld geben können. Tu einfach, woran du glaubst, und erwarte nichts von anderen. Humanitäre Arbeit muss von Herzen kommen. Du wirst verletzt werden und mit anderen leiden. Wenn du hilfst, kannst du ihr Leiden stoppen. Doch man muss beachten, dass das Leiden einen Teil der eigenen Seele für immer belasten wird.

Wer sind Ihre Helden und wie inspirieren sie Sie?

Ich bewundere all die unbekannten Soldaten in jeder Gemeinschaft, die den Menschen in ihrer Umgebung helfen, auch wenn niemand von ihnen weiß. Wenn ich solche Geschichten höre, entführt mich das in eine andere Welt. Meine Helden sind jene Frauen und Mädchen, Menschen, die Opfer von Kriegen auf der ganzen Welt sind, die Völkermorde und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der ganzen Geschichte der Menschheit überlebt haben. Alle diese Überlebenden haben etwas gemeinsam. Sie alle – Armenier, Juden, Ruander, Kongolesen, Bosnier und Jesiden – haben an ein Prinzip geglaubt: Sie wurden ausgewählt, um durch ihr Schicksal zu überleben, weil sie die Aufgabe haben, für den Rest unserer menschlichen Gemeinschaft zu kämpfen. Ich denke, ich habe das gleiche Schicksal, und ich muss meiner Verantwortung gerecht werden. 

 Jesiden warten auf ihre Evakuierung, Sinjar-Gebirge, 2014

Können Sie uns vielleicht ein wenig über Ihre Freundschaft mit Lamiya Haji Bashar erzählen? Hilft sie Ihnen bei Ihrer Arbeit?

Ich traf Lamiya, als sie nach der Flucht von ISIS im Jahr 2016 verletzt wurde. Sie konnte nicht sehen. Das erste, was ich tun musste, war, ihr Leben zu retten – und ihr Augenlicht. Ich brachte sie zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Ich hätte nie gedacht, dass Lamiya so stark und willens sein würde, ihre Geschichte der ganzen Welt mitzuteilen. Als ich an verschiedenen Orten und bei verschiedenen politischen Gelegenheiten für die Problematik der Jesiden eintrat, fragte sie mich, ob ich möchte, dass sie mich begleitet. Sie wollte über das, was ihr zugestoßen war, sprechen. Sie wollte, dass die Welt sich der Tyrannei von ISIS bewusst wird. Ich organisierte eine spezielle Veranstaltung im Europäischen Parlament und brachte sie dorthin, damit sie ihre Geschichte erzählen konnte. Sie erntete Respekt von den europäischen Politikern. Danach begleitete ich sie zu zahlreichen Veranstaltungen, Konferenzen und politischen Treffen. Mit Hilfe der Yazidi Friendship Group im Europäischen Parlament konnten wir sie zusammen mit Nadia Murad für den Sacharow-Preis 2016 nominieren. Und sie hat sogar den Preis gewonnen. Wir haben eine sehr enge Beziehung – sie ist Teil meiner Familie. Sie ist für mich wie eine Tochter, und neben meinen eigenen Aufgaben kümmere ich mich auch um ihre. Manchmal werden wir beide zur gleichen Veranstaltung eingeladen, manchmal begleite ich sie zum Übersetzen und einfach nur, um in ihrer Nähe zu sein, und manchmal kommt sie mit mir, wann immer dies nötig ist.

Wie geht es für Sie nun weiter?

Das ist erst der Anfang. Der Völkermord an den Jesiden geht weiter, und wir müssen für Gerechtigkeit sorgen. Der Kampf für die Rechte der Opfer ist eine lange und schmerzliche Herausforderung. Ich habe versprochen, die Rechte von Opfern, Minderheiten, Gerechtigkeit, Frieden und Koexistenz zu verteidigen. Opfer und Überlebende des Völkermordes haben einen besonderen Platz in meinem Leben. Aber solche Träume lassen sich ohne die Unterstützung der globalen humanitären Gemeinschaft nicht verwirklichen. Initiativen wie Aurora sind äußerst wichtig, um das Bewusstsein [für solche Themen] zu schärfen. Die Teilnahme am Aurora-Forum ist eine gute Gelegenheit, um mit anderen Menschenrechtsaktivisten, humanitären Helfern und NGOs in Kontakt zu kommen. Es wird eine gute Gelegenheit sein, Erfahrungen auszutauschen, bessere Ideen zum Wohle der Menschheit und des humanitären Sektors zu bewerten und auszuarbeiten.