Leid als Quelle der Kraft nutzen

Leid als Quelle der Kraft nutzen

Als Opfer einer brutalen Gruppenvergewaltigung im Alter von nur 15 Jahren hat sich Sunitha Krishnan von einem Opfer sexueller Übergriffe zu einer starken Menschenrechtsaktivisten gewandelt, die Tausenden Opfern von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und sexueller Gewalt – Frauen und Kinder im Alter von nur 3 Jahren – dabei hilft, den Mut aufzubringen, mit neuer Hoffnung und Würde das Leben zu meistern.

Sunitha Krishnan wurde mit Fehlbildungen an ihren Beinen geboren und lernte bereits in jungen Jahren, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein. Sunitha musste einen Großteil ihrer Kindheit Gipsverbände tragen. Sie wusste, dass sie anders war als die anderen Kinder in ihrem Heimatland Indien. Sie beschreibt sich in ihrer Kindheit als „körperlich eingeschränktes“, aber dennoch ehrgeiziges und leistungsorientiertes Mädchen, das sich mit großer Leidenschaft darum bemühte, auf diejenigen zuzugehen, denen es noch schlechter erging als ihr. Als ihre Gipsverbände schließlich entfernt wurden, brachte sie sich selbst das Tanzen bei und fand Freude darin, geistig behinderte Kinder zu unterrichten, was sie sehr liebte. Im frühen Teenageralter gründete sie sogar in einem nahe gelegenen Slum ein kleines Lernzentrum bzw. eine kleine Schule für Kinder.

Aber im Alter von nur 15 Jahren wurde ihr bis dahin glückliches Leben völlig aus den Angeln gehoben. Sunitha wurde von acht Männern vergewaltigt, deren Gesichter sie nicht kannte und sich an diese danach nicht mehr erinnern konnte. „Über Nacht hat sich meine komplette Welt verändert“, erinnert sie sich.

Sunitha überlebte den Übergriff, erkannte jedoch schnell, dass ihr Kampf gerade erst begonnen hat. Ihre Eltern waren beschämt über sie. Ihre Gemeinschaft hat sie ausgegrenzt und sie gaben Sunitha und ihrer Familie die Schuld dafür, dass dies überhaupt geschehen konnte. Sunitha wurde für das Verbrechen bestraft, das gegen sie begangen wurde, und sie war völlig allein und hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte.

Abscheuliche Männer haben ihr Verletzungen zugefügt und ihre Mitmenschen haben sie diffamiert. Aber Sunitha ließ nicht zu, dass sie ihre innere Stärke brechen. Stattdessen erkannte sie darin eine enorme Notwendigkeit für Veränderungen und eine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf junge Frauen zu lenken, die ähnliche Traumata durchlitten haben, und ihnen Unterstützung zu geben.

„Die Welt da draußen sieht ein Opfer gerne als Opfer. Sie wollen, dass das Opfer weint, sie wollen, dass das Opfer sein Gesicht versteckt. Ich bin genau das Gegenteil“, erklärt sie. „Ich erkannte, dass ich niemanden brauche, der zu mir steht. Mein eigenes Ich ist stark genug.“

 

 

Sie erwarb einen Abschluss in psychiatrischer Sozialarbeit und begann Frauen in der Prostitution zu beraten. Sie schloss sich dann der Volksbewegung „People’s Movement“ an – einem Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen und Persönlichkeiten in Indien, das sich progressiven Zielen verschrieben hat – und wurde anschließend verhaftet. Ihr wurde ihre Fürsprache angelastet und sie verbrachte zwei Monate im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung gründete Sunitha die Organisation Prajwala, an deren Anfang zunächst ganz bescheiden die Mission stand, Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu retten und zu rehabilitieren und ihnen dabei zu helfen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Bis heute hat sich diese Initiative zu einer der weltweit größten zivilgesellschaftlichen Organisationen entwickelt, die gegen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Sexualverbrechen kämpft und bereits mehr als 18.500 Frauen und Kinder gerettet hat.

Sunithas Gruppenvergewaltigung – Auslöser vieler Traumata – wurde zu einer der größten Motivationsquellen in ihrem Leben. „Das hat mir gezeigt, wie die Gesellschaft mit den Opfern von Sexualverbrechen umgehen. Du wirst wie ein Verbrecher behandelt, ohne dass dich irgendeine Schuld trifft“, erklärt sie. „Und dann habe ich in meinem Leben eine Entscheidung getroffen: Das ist die Mission, die ich in Angriff nehmen werde. Von jetzt an, von dieser Sekunde an und in jeder Sekunde meines Lebens werde ich mich dem Kampf gegen Sexualverbrechen und den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung widmen.“

Sie begann, mit der örtlichen Polizei zusammenzuarbeiten und richtete drei separate Unterkünfte für die von ihr geretteten Opfer ein: eine Notunterkunft, eine für erwachsene Opfer und eine für Kinder, die manchmal gerade erst drei Jahre alt sind. Auch wenn Sunitha jeden Tag an vorderster Front tätig ist, um Menschen vor drohendem Unheil zu bewahren, so ist für sie gleichermaßen sehr wichtig, sicherzustellen, dass den Betroffenen langfristige Unterstützung und Mittel zur Verfügung stehen, die sie benötigen, um erfolgreich in die Gesellschaft zurückzufinden.

„Als ich Prajwala gründete, wollte ich eine sichere Gemeinschaft für Überlebende des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung aufbauen. Der Wunsch, bei den Opfern die Selbstbestimmung zu stärken, entspringt meinem eigenen Verständnis davon, Leid als Quelle der Kraft zu nutzen“, erklärt sie. „Wir wollen, dass jedes Kind und jede Frau, das bzw. die Prajwala verlässt, mit einem Gefühl von Kraft, Würde und Selbstverständnis geht.“

Dank ihrer Lobbyarbeit mit Kommunalverwaltungen kann Sunitha sicherstellen, dass diese Frauen einen Zuschuss, eine rechtmäßige Staatsbürgerschaft, eine Unterkunft und einen Arbeitsplatz bekommen, wenn sie unsere Einrichtung verlassen und in die Gesellschaft zurückkehren. Ohne diese Ressourcen landen Opfer von Sexualverbrechen und kommerzieller sexueller Ausbeutung in der Regel wieder auf der Straße, schwer krank oder sogar tot.

Letzen Endes sieht Sunitha ihre Arbeit als eine echte globale Anstrengung, die weit über die Grenzen Indiens hinaus reicht und ein Kampf gegen den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung auf der ganzen Welt ist. „Ich bin nicht hier, um eine kleine Organisation zu leiten. Ich bin hier, um auf der Welt etwas zu bewirken, indem ich die in Indien etablierten Möglichkeiten aufzeige und der ganzen Welt begreiflich mache, dass jede Form von Sexualverbrechen an Frauen und Kindern beklagenswert ist und nicht toleriert werden darf.“