Eine Stimme für die Jesiden

Eine Stimme für die Jesiden

„Die Welt braucht Toleranz. Wir sollten etwas unternehmen, um Toleranz zu fördern und andere zu akzeptieren. Wir sollten lernen, einander wieder zu vertrauen“, sagt Vian Dakhil Saeed Khidthir, die einzige jesidische Abgeordnete im irakischen Parlament. 

Ihre leidenschaftliche und aufrichtige Rede vor zwei Jahren machte weltweit Schlagzeilen. Sie wandte sich sowohl an das eigene Parlament wie auch die internationale Gemeinschaft mit einem Aufruf, den von ISIS verübten Massakern ein Ende zu setzen und die jesidischen Flüchtlinge zu retten, die im Sindschar-Gebirge im Nordirak festsaßen.

„Es ist ein Völkermord im Gange. Mein Volk, die Jesiden, wird dahingemetzelt wie schon das irakische Volk vor ihm. […] Abseits aller politischen Auseinandersetzung, wir fordern humanitäre Solidarität! Ich spreche im Namen der Menschlichkeit. Rettet uns, rettet uns!“ Überwältigt von ihren Emotionen brach Vian Dakhil zusammen, noch bevor sie ihren Aufruf zu Ende bringen konnte. „Ich weinte, um die Tränen und das Leid [der jesidischen Flüchtlinge] zu vermitteln. Ich weinte nicht meinetwegen, denn nicht ich litt Hunger und Durst. Ich weinte der Flüchtlinge wegen, denn sie waren in Not, litten Hunger und Durst“, sagt Vian Dakhil.

Im August 2014 nahm ISIS die Stadt Sindschar sowie umliegende Orte ein und tötete einem Bericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte und der angegliederten Unterstützungsmission im Irak zufolge 5.000 jesidische Männer.

Vian Dakhils Flehen wurde schließlich vom amerikanischen Präsidenten Barack Obama erhört, der gezielte Luftangriffe und einen humanitären Hilfseinsatz im Irak anordnete. „Anfang der Woche klagte eine einzelne Irakerin vor der ganzen Welt, keiner komme zu Hilfe, doch heute kommt Amerika“, so die offizielle Verlautbarung des Präsidenten vom 7. August 2014.

Das Europäische Parlament verabschiedete im Februar 2016 eine Resolution, in der es die systematische Ermordung und Verfolgung religiöser Minderheiten im Nahen Osten durch ISIS als Völkermord anerkannte.

Eine Woche nach ihrem Aufruf im Parlament wäre Vian Dakhil beinahe selbst ums Leben gekommen. Zwar hatte sie an jenem Tag im August keine diesbezüglichen Pläne, doch als sie sich von dem Enthusiasmus anstecken ließ, mit dem sich die Piloten auf ihre Rettungsmission vorbereiteten, stieg sie kurzerhand in einen der Hubschrauber, die Richtung Berge starteten, um den jesidischen Flüchtlingen Nahrung zu bringen und Frauen und Kinder zu evakuieren. Aufgrund von Überladung kam es zu einer Bruchlandung. Vian Dakhil erlitt schwere Verletzungen und geht noch immer am Stock, der irakische Pilot starb in den Trümmern. „Vergleicht man die schlimme Lage dieser Menschen, die mich um Hilfe anflehen, mit meiner Verletzung, spielt diese für mich keine Rolle“, sagt sie.

Von der Universität ins Parlament

Vian Dakhil kam 1971 im nordirakischen Mosul als ältestes von neun Kindern zur Welt und wuchs dort auf. Nachdem sie an einer der Universitäten Biologie gelehrt hatte, wagte sie den Schritt in die Politik. In den Jahren 2003 und 2004 waren einige ihrer jesidischen Studenten zu Zielen in dem Konflikt geworden, der sich nach dem Sturz von Saddam Hussein und seinem Regime Bahn brach. Mutig mischte sie sich ein, um zu helfen. 2010 wurde sie zum ersten Mal ins irakische Parlament gewählt und 2014 als Kandidatin der Demokratischen Partei Kurdistans im Amt bestätigt. Seitdem arbeitet sie unermüdlich, um zehntausenden Jesiden zu helfen, die Opfer von ISIS geworden sind. Ihre Bemühungen gelten vor allem Frauen und Kindern, die entführt, versklavt und auf Märkten wie aus dem tiefsten Mittelalter verkauft werden. „Wenn so etwas den Jesiden widerfährt, widerfährt es uns allen. Wir sind eine Familie, so fühlen wir. Die sexuelle Versklavung jesidischer Mädchen und Frauen kommt einer öffentlichen Vergewaltigung unserer Gemeinschaft gleich“, sagt Vian Dakhil.

Auch zwei Jahre danach besteht keine Aussicht auf Besserung der Lage in der Region. Über 85 Prozent aller irakischen Jesiden leben heute als Flüchtlinge im irakischen Kurdengebiet. „Die Lage dieser Menschen stimmt einen sehr traurig, denn auch zwanzig Monate später leben sie noch in Zelten, ohne humanitäre Hilfe“, sagt Vian Dakhil. „Sie haben keine Schulen, keine Universitäten, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung; sie haben nicht einmal das zum Leben Notwendigste.“ Mehr noch als darum sorgt sich Vian Dakhil um die Auswirkungen dieses Mangels auf die Psyche der Flüchtlinge und fürchtet, die Menschen könnten die Zuversicht verlieren.

„Viele Jesiden leben noch immer in Gebieten, die von ISIS kontrolliert werden: Etwa eintausend Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren werden von ISIS gefangen gehalten und sollen die nächste Generation von Kämpfern sein“, sagt sie. 

Wenn Vian Dakhil nicht an Parlamentssitzungen in Bagdad teilnimmt, hält sie sich im irakischen Kurdengebiet auf, wo sie Flüchtlingslager besucht und den Menschen zuhört, die sie um Hilfe bitten. Vian Dakhil wurde 2014 der Anna-Politkowskaja-Preis der Nichtregierungsorganisation Reach All Women in WAR verliehen, die Kämpfer und Kämpferinnen für Menschenrechte weltweit unterstützt. Ausgezeichnet wurde sie für ihren Mut, den sie bei ihrem Einsatz für den Schutz der Jesiden vor dem Terror von ISIS beweist.

Toleranz jetzt, mehr denn je!

Das Humanitäre liegt den Dakhils im Blut: Nicht nur der Vater, sondern gleich vier Schwestern und zwei Brüder sind Mediziner; ein Bruder ist Anwalt und eine Schwester Apothekerin. Eine der Schwestern leitet eine in Sindschar ansässige Hilfsorganisation.

Neben der Unterstützung für ihre Schwester in Sindschar reist Vian Dakhil regelmäßig nach Dohuk im irakischen Kurdengebiet, wo im größten Flüchtlingslager mit Namen Sharia über 18.000 Menschen in 4.000 Zelten leben. Eröffnet wurde es 2014 und bietet je zwei arabische und kurdische Schulen. „Jetzt haben wir im Lager Schulen, in der die Kinder lernen, spielen, malen und über Frieden reden können. Wir sollten diese Generation lehren, in Frieden zu leben und miteinander zu reden. Die Tragödie, die über die Jesiden hereingebrochen ist, sollte sie stark und nicht schwach machen“, sagt Vian Dakhil.

Eine Zeltschule im Lager Sharia

„Jetzt bitte ich um Hilfe bei der Rettung von 3.000 Mädchen aus Gebieten, die von ISIS kontrolliert werden. Wir müssen etwas für sie tun. Wenn wir das Vertrauen dieser Menschen verlieren, bleiben uns nicht viele Optionen. Wir sollten Vertrauen wieder aufbauen, wir sollten Frieden schaffen zwischen dem jesidischen Volk und den anderen Völkern. Ich bitte um mehr humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, nicht nur für Jesiden, sondern für alle“, sagt Vian Dakhil. Ihr Kampf, den Jesiden und Irakern eine Stimme zu geben, geht weiter.

Im Namen der Überlebenden des Völkermordes an den Armeniern und in Dankbarkeit gegenüber ihren Rettern wird jährlich der Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit an denjenigen verliehen, der einen außergewöhnlichen Beitrag zur Rettung von Menschenleben geleistet hat und sich für humanitäre Ziele einsetzt. Das Preisgeld selbst beläuft sich auf 100.000 Dollar. Darüber hinaus erhält der Preisträger oder die Preisträgerin die einmalige Gelegenheit, den Kreislauf des Gebens fortzusetzen, indem er bzw. sie Fördermittel in Höhe von einer Million Dollar an eine Organisation seiner bzw. ihrer Wahl vergibt, die als Inspiration für das eigene Handeln diente.

Die erstmalige Verleihung des Aurora-Preises findet am 24. April 2016 in der armenischen Hauptstadt Jerewan statt.