Die Warburgzeile befindet sich in Charlottenburg, einem Stadtviertel von Berlin, in dem man häufiger Russisch hört als andere Sprachen. Es ist eine ganz normale Straße, wie man sie in Armenien, Russland oder anderswo auf der Welt finden kann. Aber als Archi Galentz seine Tür öffnet, fällt die Entscheidung für Armenien. Archi Galentz ist ein international anerkannter Künstler. Seine Werke wurden in über 70 Ausstellungen weltweit gezeigt und mehrfach ausgezeichnet.
Seit zwanzig Jahren lebt und arbeitet er in Berlin. Das Haus, das er selbst renoviert, erinnert eher an ein Atelier als an eine Wohnung: Regale voller Bücher, viele in Russisch und Armenisch, Poster mit der Aufschrift „Berg-Karabach“ und „Armenien“, traditionell anmutende Skulpturen und Gemälde.
Archi Galentz wurde in Moskau in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Sein Vater ist Maler von Beruf, der Großvater mütterlicherseits Nikolaj Nikogosyan ist Bildhauer und Professor an der Stroganow-Kunsthochschule in Moskau. Aber auch seine beiden Großeltern väterlicherseits waren in Sowjetarmenien bekannte Maler, deren Kunst der Jerewaner Stadtrat mit der Errichtung einer Stele ehrte. 1968 wurde aus ihrem Haus offiziell ein Museum.
Ihre Bilder würden auch heute der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn auch nicht in dem Maße, in dem sie es verdienten, meint Archi Galentz. Sein Herz hängt nach wie vor an dem Hause seiner Großeltern, in dem er seine ersten Studienjahre verbrachte. „Als ich nach Deutschland kam, war mir von vornherein klar, dass ich nach dem Studium zurückgehen würde, um das Haus meiner Großeltern zu einem privaten Museum auszubauen“, erinnert er sich. Seine Stimme klingt traurig, mit einem gewissen Bedauern.
Während er an der Akademie der Künste in Berlin lernte, wie man Bilder restauriert, Wertgüter untersucht, konserviert und ausstellt, wie man die Präsentationsräume ausleuchtet und mit der Presse arbeitet, änderten sich in Armenien die familiären Verhältnisse. „Das Haus-Museum bekam eine neue Direktorin und meine Person wurde leider nicht mehr gebraucht“, sagt Galentz und nimmt einen Schluck Kaffee, sein Blick auf den Tisch gerichtet. Der 44-jährige sitzt aufrecht, seine Haltung ist ruhig. Seine schwarzen Augen wirken aufrichtig und voller Reflexion. Man merkt, dass ihn viele Themen bewegen. Das angesprochene Thema führt das Gespräch in die Vergangenheit, wo alles begann.
Die Entscheidung (The Choice). 2002 |
Russland will ihn nicht
In Moskau bewarb sich Archi Galentz, der eigentlich den Namen seines Großvaters Harutyun trägt, zunächst an der Fakultät für Design. Auf die Prüfungen hatte er sich zwei Jahre vorbereitet. „Ich wollte was anderes machen, nicht unbedingt Malkunst. Design klang für mich interessant und modern“. Zu diesem Zeitpunkt wusste der 18-jährige noch nicht, dass ihm der Zugang zur Universität in Moskau verwehrt würde. „Ich fiel in allen Fächern durch, was lächerlich war“, kommentiert er aus heutiger Sicht. „Aus welchen Gründen auch immer: Sie wollten mich dort nicht haben.“
Ein halbes Jahr später bewarb er sich 1989 an der Staatsuniversität der Künste und des Theaters in Jerewan und wurde mit Einsern in allen Fächern aufgenommen. „Ich wohnte bei meiner Großmutter Armine in Jerewan, in dem Haus, das mein Großvater selbst gebaut hatte. Die Verbindung zu ihnen und zu ihrer Kunst verspüre ich heute noch“, sagt Archi Galentz, der vor kurzem bei der Ausstellung „ENKEL - Neue Geographien der Zugehörigkeit“, die parallel zur Biennale in Istanbul lief, ein Originalwerk von seiner Großmutter ausgestellt hatte.
Ein Portrait gemalt von der Großmutter Armine Baronian |
Sie haben das Leben besungen
Die Großmutter Armine Baronian kam 1920 in der Stadt Adabazar in der Nähe von Istanbul zur Welt. Zu dem Zeitpunkt war der Erste Weltkrieg vorbei und die Massaker an den Armeniern flauten ab. Die Armenier durften in ihre Häuser zurück. Doch die Lage verschlechterte sich bald wieder. So musste sie im Alter von vier Jahren zusammen mit ihrer Mutter und Geschwistern nach Syrien flüchten. Damals verlor sie ihren Vater.
Ihre Mutter war Lehrerin. Ihr älterer Bruder Aram brachte es später sehr weit. Er wurde einer der führenden Ingenieure im Nahen Osten im Bereich der Trinkwasser-Technologie. Armine dagegen verliebte sich in die Kunst, als sie Ende der Dreißiger Jahre Italien besuchte. „Der Ruhm meines Großvaters Harutyun Galentz hatte sich indessen im Nahen Osten herumgesprochen und er galt als einer der höchst geschätzten Künstler im Libanon“, erzählt Galentz. „Armine packte ihre Sachen und ging nach Beirut, um bei ihm zu studieren. Bald assistierte sie meinem Großvater bei seiner Arbeit für die Weltausstellung in New York. Bereits 1940 hatte sie ihre erste persönliche Ausstellung in Aleppo und vier Jahre später die nächste in Beirut. Armine war sehr erfolgreich. Die Erträge aus ihren Ausstellungen trugen erheblich zum Haushaltsbudget bei“, fügt Galentz stolz hinzu.
„Mein Großvater war zehn Jahre älter als sie. Er kam 1910 in Gürün, in der Provinz Sivas zur Welt.“ Gürün ist eine relativ bekannte Stadt in der Zentraltürkei. Auch er musste seine Heimat im Alter von fünf Jahren verlassen. Zunächst tötete man seinen Vater. Dann wurde seine Familie gemeinsam mit anderen Armeniern auf den Todesmarsch in die Syrische Wüste geschickt. „Laut Überlieferungen besaß die Familie eine Weberei. Die Wurzeln meines Großvaters reichen bis in die Fürstenfamilie in der ehemaligen armenischen Hauptstadt Ani zurück, doch es fehlen entsprechende Nachweise. Sein Selbstbild war aber auf jeden Fall sehr aristokratisch angehaucht“, erzählt Archi Galentz.
Der Todesmarsch durch die Wüste hatte seine Mutter völlig ausgezehrt. Als sie in Syrien ankamen, wurde sie sofort in ein Krankenhaus gebracht. „Mein Großvater verharrte tagelang an ihrem Bett, doch sie starb. Er wurde zusammen mit seinen Geschwistern in ein Waisenhaus gebracht. Dort haben die Mentoren seine Liebe zur Kunst entdeckt und ihn gefördert.“ Er hatte zwei Brüder, Hajk und Vardevar. Letzterer wurde Fotograf und eröffnete in Beirut ein Fotostudio, während der Großvater Harutyun Galentz zusammen mit einem französischen Maler durch den Nahen Osten reiste. Später schloss er sich seinem Bruder an und machte sich bald einen Namen als Maler, dessen Gemälde heute noch die Wände der armenischen Kirche in Beirut schmücken.
Seinen Durchbruch erzielte er jedoch 1939 mit der Teilnahme an der Weltausstellung in New York. „Er soll sogar mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle befreundet gewesen sein, als dieser noch im Rang eines Generals vom Libanon aus den französischen Widerstand gegen die faschistischen Besatzungsmächte leitete“, sagt Archi Galentz.
1946 emigrierte er zusammen mit Armine, die inzwischen seine Ehefrau geworden war, nach Sowjetarmenien. „Mein Großvater redete nicht gerne über das, was ihm 1915 widerfahren war. Eine Zeichnung von ihm zu diesem Thema gibt es dennoch. Es zeigt eine liegende tote Frau und ein Kind, das sie umarmt. Menschen, die solche Gräueltaten durchlebt haben, können voller Wut sein, aber sie sind nicht imstande, diese Traumata in ihren Werken zu verarbeiten. Die Bildwelt von Harutyun Galentz ist ungewöhnlich farbenfroh, hell, offen, leuchtend. Auch die Kunst meiner Großmutter hat einen humanitären Appell, etwas Erhabenes. Auch wenn die Kunstkritiker der Sowjetzeit meine Großeltern hauptsächlich als Opfer des Völkermordes darstellten, sie waren mehr als nur Opfer. Sie haben ihr Leben aktiv gestaltet. Sie haben das Leben besungen“, sagt Archi Galentz mit Nachdruck.
Archi Galentz mit seiner Frau Armine Torosyan. Hochzeitsfoto. Im Hintergrund die Großeltern Harutyun Galentz und Armine Baronian. Foto von Folker Kreidler |
Wissbegierde, seine Treibkraft
Archi Galentz erlebte die Unabhängigkeit Armeniens, die Selbstbestimmungsbestrebungen Berg-Karabachs und malte politische Plakate, bevor er das Land verließ. „Die ersten Jahre meiner Studentenzeit haben mich gewiss geformt. Es waren Zeiten der Veränderung, des Umbruchs. Die Überzeugung, dass die Gesellschaft fähig ist, sich zu verändern, dass sie überhaupt imstande ist, etwas zu bewirken, das hat mich sehr beflügelt und tut das heute noch“, sagt Galentz.
Nach dreijährigem Aufenthalt in Jerewan merkte er bald, dass ihn das Studium nicht mehr ausfüllte. „Ich begann mich ernsthaft für die Kunst zu interessieren. Ich wollte wissen: Was ist Kunst? Auf diese Frage konnte mir niemand eine Antwort geben, weder meine Familie noch die Akademie.“ Als er in den Neunziger Jahren im Rahmen eines Austauschprogramms nach Deutschland kam, schien ihm die Antwort greifbar nah. Er bewarb sich für Visuelle Kommunikation, Industriedesign und Freie Künste an der Hochschule der Künste in Berlin und wurde zugelassen.
„Ich verbrachte viele Stunden in der Bibliothek, setzte mich mit der Kunstgeschichte auseinander“, erinnert er sich. Nach dem Studium hat er neben zahlreichen Soloausstellungen selbst Kunst unterrichtet und Beiträge zur Kunst verfasst, bis er 2008 einen eigenen Kunstraum in Wedding „Interiordasein“ eröffnete, ein Atelier, das seine Türen für Künstler und Kunstinteressierte offen hat und zahlreiche Künstler beherbergte. Dort kann man heute eine exklusive Sammlung der zeitgenössischen armenischen Kunst bewundern.
Seine Bilder behandeln politische, gesellschaftliche und intime Themen. Sie halten ein Stück Wirklichkeit fest, wie die Romane, die die Geschichte des Zeitalters widerspiegeln. Die Farben und Formen sind mit Bedacht gewählt. Sie erzeugen Spannung, füllen den Bildraum, ohne ihm seinen Freiraum zu nehmen. Ob er denn jetzt, nach so vielen Jahren die Antwort auf die Frage, was Kunst ist, gefunden habe? Archi Galentz schmunzelt. Nein. Die bildende Kunst lasse sich nicht so einfach in Worte fassen, sagt er.
Archi Galentz. Banner. 2015 |
Ein großes abstraktes Bild hängt erhaben an der Wand. Die Farbe ist schwer definierbar. Rot ist es nicht, vielleicht rot-orange-lila? Seltsam. Erst bei näherem Betrachten erschließt sich einem die Struktur des Bildes: Es besteht aus mehreren Schichten und unterschiedlichen Materialien, die zusammen ein harmonisches Ganzes bilden und doch einzeln zur Geltung kommen. Es fordert den Betrachter auf, seine Perspektiven zu wechseln, auch wenn das Bild in Primärfarben verwurzelt bleibt. Wie der Maler selbst, denke ich, als mich die warme Herbstluft in Charlottenburg wieder empfängt.
Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.
Titelbild: Armine Torosyan