Als Aline Kamakian ihr erstes Restaurant in Beirut eröffnete, nannte sie es Mayrig nach dem armenischen Wort für Mutter, denn von ihr hatte sie kochen gelernt. Heute gehört der erfolgreichen Geschäftsfrau eine internationale Kette armenischer Restaurants. An den Wänden hängen Bilder ihrer Vorfahren, die wie durch ein Wunder den Völkermord überlebten. Auf der Speisekarte stehen traditionelle Gerichte Westarmeniens, die jeden Gaumen erfreuen.
Bis 1915 lebten die Vorfahren des Vaters in Tomarza, einem kleinen Ort in der Nähe der zentralanatolischen Stadt Kayseri. Großvater Arshak war neun Jahre alt, als die Familie von den bevorstehenden Massakern erfuhr und floh. Unterwegs wurden sie jedoch angehalten. „Großvater erzählte mir, wie seine Eltern und Brüder vor seinen Augen von Kurden brutal niedergemetzelt und zwei seiner Schwestern verschleppt worden seien“, erinnert sich Aline Kamakian. Arshak entging dem Blutvergießen nur knapp, weil er sich unter dem Karren hatte verstecken können. Dann kamen die Plünderer, stahlen die Kleidung der Toten und brachen ihnen die Goldzähne heraus. Arshak blieb weiterhin unentdeckt und entkam.
Hätten sich nicht französische Missionare seiner angenommen, wäre der Junge den sicheren Hungertod gestorben. Nach seiner Ankunft in Beirut versorgte man ihn im Waisenhaus Jubail. Er machte sich auf die Suche nach seinen Schwestern, doch vergebens: In keinem der Waisenhäuser Syriens oder des Libanon gab es Mädchen mit Namen Kamakian. Er wurde Steinmetz und baute sich ein Haus im Charchabukh-Viertel von Bourj Hammoud, das von armenischen Flüchtlingen im Libanon gegründeten worden war. Dort lernte er seine zukünftige Frau kennen, die wie er aus Tomarza stammte.
Arshak und Siranush |
Siranush war zwei Jahre jünger als Arshak. Ihre Familie hatte die Tochter noch vor den Massakern ins sichere Syrien schicken können, war selbst aber nicht mehr rechtzeitig aus dem Heimatort herausgekommen. Siranush sah ihre Familie nie wieder. Nach der Hochzeit unterstützte die Sechzehnjährige ihren Ehemann nach Kräften und wusch die Uniformen der am Stadtrand von Bourj Hammoud stationierten französischen Soldaten. Das Paar bekam sieben Kinder. Havag, der älteste, ist Aline Kamakians Vater.
Eine verschlüsselte Warnung
Den Vorfahren der Mutter war ein nicht weniger tragisches Schicksal beschieden. Großvater Haig Mardiryan kam in der bekannten Gegend rund um den Mosesberg zur Welt. Die Bewohner dort widersetzten sich den Anordnungen der Türken und blieben in ihrer Heimat, um sie zu verteidigen. Haig war damals neun Jahre alt. „Großvater war zu klein, um in den Kampf zu ziehen“, sagt die Enkelin. „Doch es mangelte an Kämpfern und so erlaubte das Selbstverteidigungskomitee am Mosesberg den Jungen, die kämpfenden Männer zu unterstützen. Großvater betraute man mit dem Nachladen der Gewehre und er lieferte Schwarzpulver in die Schützengräben.“
Über viele Tage hinweg schlugen die Belagerten die Angriffe der osmanischen Armee heldenhaft zurück, doch die schwindenden Nahrungs- und Munitionsvorräte bereiteten den Verteidigern zunehmend Sorgen. So wechselten die Türken die Strategie und beschlossen, die Eingekesselten – hatte man sie schon nicht auf dem Schlachtfeld besiegen können – langsam auszuhungern. Rettung nahte von See. Matrosen des vorbeifahrenden französischen Kreuzers Le Guichen entdeckten die Fahne, die von den Armeniern auf dem Gipfel unweit der Küste gehisst worden war. Auf ihr stand in großen Buchstaben geschrieben: „Christen in Gefahr“.
Die Franzosen nahmen die Armenier an Bord. Während Haig und seine Mutter zu den Geretteten gehörten, war sein Vater in einer der Schlachten gefallen.
Die Überlebenden wurden in ein Flüchtlingslager nach Ägypten gebracht.
Unter ihnen befand sich auch Haigs zukünftige Frau, die zu diesem Zeitpunkt noch vierjährige Manushak. Sie hatte ihre gesamte Familie am Berg verloren. Sie wuchs im Waisenhaus auf und fand nie ihren Nachnamen heraus. Die Lehrer an der Schule des Waisenhauses erkannten das Talent des Mädchens für Sprachen und schickten sie auf eine weiterführende Schule nach Zypern. Nachdem sie in Nicosia eine hervorragende Ausbildung erhalten hatte, zog sie nach Beirut und unterrichtete Fremdsprachen an einem Gymnasium. Im Libanon lernte sie schließlich Haig kennen und heiratete ihn.
Manushak und Haig |
Zusammen mit ihrem Mann übernahm Manushak eine aktive Rolle bei der Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen den Überlebenden des Mosesberges, insbesondere mit denen, die nach Sowjetarmenien zogen. Als 1946 die Repatriierung begann, erwogen auch Haig und Manushak einen Umzug nach Jerewan, doch Verwandte, die bereits dort lebten, hatten ihnen einen verschlüsselten Brief geschrieben, in dem sie davor warnten. Sie sollten nicht in die Sowjetunion kommen, da viele der Zurückgekehrten verfolgt und gleich nach ihrer Ankunft nach Sibirien geschickt würden. Doch auch danach ließen die Mardiryans den Kontakt mit Armenien nicht abreißen und besuchten Jerewan regelmäßig. Tochter Vardui und Enkelin Aline wuchsen auf in einem Klima, das sie die Liebe zu ihrer historischen Heimat lehrte.
Eine große Familie
Nach der Hochzeit bezogen Vardui und Havag ein Haus, in dem nicht nur Verwandte, sondern auch Landsleute jederzeit willkommen waren, die dort zahlreich ein- und ausgingen. „In unserem Wohnzimmer waren immer Leute“, erinnert sich Aline Kamakian. „Die Menschen vom Mosesberg und aus Tomarza hätten sich keinen besseren Ort für ihre Treffen wünschen können als unser Haus. Ich nannte sie Onkel und Tante und glaubte, ich sei mit allen verwandt. So wuchsen wir auf. Meine Eltern pflegten immer zu sagen, alle Armenier seien eine große Familie.“
Manushak und Haig mit Verwandten in Jerewan |
Durch seine Arbeit als Oberkellner im Sankt-Georg-Hotel wusste Havag Kamakian bestens, wie man Gäste bedient und einen Tisch deckt, während Vardui in der Küche zur Hochform auflief. Keiner konnte die traditionellen Gerichte aus der Heimat besser zubereiten als sie. Nach dem Harissa à la Mosesberg gab es gewöhnlich Su-bereg-Käsekuchen nach einem Rezept aus Tomarza. „Oft half ich meiner Mutter beim Kochen“, sagt Aline Kamakian. „Ich mochte schon immer alles, was mit Küche und Bewirtung von Gästen zu tun hat. In dem Alter wusste ich allerdings noch nicht, dass ich selbst mal Gastronomin werden würde. Mein Interesse an Wirtschaft und Finanzen war noch größer.“
Aline Kamakian mit ihrer Mutter Vardui |
Nach ihrem Studium an der Universität hatte Aline Kamakian zunächst Erfolg als Finanzexpertin. Mit ihrer Karriere ging es steil bergauf. Ende der Neunzigerjahre zählte ihr Brokerunternehmen IIC Sarl zu den zehn besten im Libanon. Ihr Versicherungsunternehmen GM Insurance & Investment Consultant IIC wirft noch immer hohe Profite ab. Doch tief im Inneren begann ein Feuer für das Kochen zu lodern.
2002 beschloss Aline Kamakian gemeinsam mit ihrem Cousin Serge Makaron, ein Restaurant zu eröffnen. „Wir kauften ein heruntergekommenes Gebäude im christlichen Viertel von Beirut und richteten es her“, erinnert sie sich. „Keiner von uns beiden hatte irgendwie Erfahrung. Weder Serge noch ich sahen in dem Unterfangen ein Investment, von dem wir uns eine Rendite erwarteten. Es ist meine Überzeugung, dass Küche zur Identitätsstiftung und zur Kultur einer Nation einen wichtigen Beitrag leistet. Und so wollten wir unseren Teil tun, ebendiese Kultur zu bewahren und zu fördern.“
Aline Kamakian vor dem ersten Restaurant ihrer Kette Mayrig im libanesischen Beirut |
Ihr Riesenerfolg zwang die Geschäftspartner jedoch schnell zum Umdenken. Sie expandierten und eröffneten 2010 ein zweites Restaurant im saudi-arabischen Dschidda am Roten Meer. 2013 folgte Restaurant Nummer 3 im Stadtzentrum von Dubai, unweit des berühmten Wolkenkratzers Burj Khalifa. Daneben gründete das geschäftstüchtige Duo eine weitere Restaurantkette mit Sitz in Beirut unter dem Namen Batchig, was auf Deutsch Kuss bedeutet. Sie haben bereits einen Vertag für ein Restaurant in Kuwait und wollen weitere in Riad, London, Los Angeles und Kairo eröffnen.
Auf der Speisekarte der Mayrig-Restaurants stehen 70 traditionelle Gerichte, von denen viele den Armeniern selbst unbekannt sind. Aline Kamakian begab sich auf die Suche nach fast vergessenen Rezepten, für deren Zubereitung man viel Zeit und Geduld benötigt.
Die Ergebnisse ihre Nachforschungen lassen sich nachlesen in einem bebilderten Kochbuch über die armenische Küche, das sie gemeinsam mit Barbara Drieskens geschrieben hat. „Jeder Völkermord geht einher mit der Zerstörung oder Aneignung des kulturellen Erbes durch die Täter“, sagt Aline Kamakian. „Mit dem Buch will ich aufzeigen, wie sich der Völkermord sogar auf die armenische Küche ausgewirkt hat.“
Aline Kamakian mit ihrem Buch „Armenian Cuisine“, das sie in Zusammenarbeit mit Barbara Drieskens geschrieben hat. |
Aline Kamakian glaubt, der einfachste Weg, einen Ausländer für das eigene Land zu interessieren gehe durch den Magen. „Das ist nichts Neues. Mit meinen Restaurants will ich den Menschen zeigen, dass die Armenier nicht nur den Völkermord überlebt, sondern sich auch die Freude am Leben bewahrt haben“, sagt sie und lächelt.
Die Geschichte wurde verifiziert vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES.