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Eine Heldin unter vielen

Eine Heldin unter vielen

Von Julia Reysner

Mahienour El-Massry ist eine Anwältin und politische Aktivistin in Ägypten, die sich für politische Freiheiten und Menschenrechte in ihrem Land einsetzt und dafür friedliche Proteste organisiert und politische Gefangene vor Gericht verteidigt. In Ägypten kann es gefährlich sein, seine Ablehnung gegenüber der offiziellen Politik zu äußern, und Mahienour El-Massry wurde wegen ihres Engagements bereits mehrfach festgenommen und inhaftiert. Dennoch bleibt sie optimistisch, was die Zukunft ihres Landes angeht, und engagiert sich weiterhin für einen positiven Wandel.

Mahienour El-Massry wurde in Alexandria, Ägypten, geboren und stammt aus einer eher wohlhabenden Familie. „Wenn man aus einer Mittelklassefamilie kommt, lebt man in einer Art Blase, besonders in Ägypten. Man sieht keine Armut und man sieht keine reichen Tycoons“, erzählt Mahienour. Als Teenager musste sie jedoch einige Ereignisse miterleben, die ihre persönliche Entwicklung stark beeinflusst haben. Eines davon war die amerikanische Invasion in den Irak im Jahr 2003. „Ich war zwar absolut gegen Saddam Hussein, aber die Vorstellung, dass die Menschen, die Zivilisten, den Preis für die amerikanische Invasion zahlen sollten, hat mich doch ziemlich schockiert“, bekennt die Aktivistin.

Etwa zu der Zeit, als Mahienour El-Massry an einer Universität studierte, wurde die ägyptische Bewegung für Wandel gegründet, besser bekannt unter ihrem Spitznamen Kefaya, was so viel wie „Genug“ bedeutet. Diese Basisbewegung wurde gegründet, um die Präsidentschaft von Husni Mubarak, die politische Korruption und die Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. „Damals war ich 18 Jahre alt und ich begann, über Fragen der Diktatur und der Politik nachzudenken. Ich schloss mich der Kefaya-Bewegung an, und das öffnete mir die Augen für ein neues Ägypten“, erinnert sich Mahienour.

Sie war der Meinung, dass ihr Land und dessen Bevölkerung einen hohen Preis für die Diktatur zahlten, da es praktisch keine Alternativen zur Regierungspartei gab. „Die einzige andere nennenswerte politische Gruppe war die Muslimbruderschaft, und die gab den sonderbaren Slogan ‚Der Islam ist die Antwort‘ aus“, so die Aktivistin. „So etwas spricht mich nicht an. Mein Interesse wecken kann über die Themen Wirtschaft und Freiheit.“

Mahienour El-Massry bei der Demonstration gegen Präsident Abdel-Fattah Elsisi und die Muslimbruderschaft. Alexandria, Ägypten, 2013

Auf der Suche nach Antworten und Gleichgesinnten schloss sich Mahienour einer kleinen Gruppe der Revolutionären Sozialisten an. „In Alexandria, wo ich herkomme, haben sie begonnen, die Menschen aus ihren Häusern zu vertreiben, um zum Beispiel den Hafen zu erweitern oder neues Gelände zu schaffen. Ich habe die Arbeiter in den Zementfabriken im Kampf gegen die Privatisierung und für ihre Rechte unterstützt. Ich habe den Fischern geholfen, denn es gab weder eine Interessenvertretung noch eine Gewerkschaft für sie“, so Mahienour. „Ich begann zu glauben, dass Menschen von Grund auf nicht böse sind. Die meisten Menschen leben unter sehr schwierigen Bedingungen, die sie manchmal dazu bringen, falsche Dinge zu sagen oder zu tun. Der Anteil böser Menschen an der gesamten Menschheit ist sehr gering, und solche Menschen trifft man wohl eher nicht auf den Straßen. Sie haben ihre eigenen Bereiche und ihre eigenen Waffen. Sie haben ihre eigenen Paläste.“

Mahienour El-Massry beim Solidaritätsmarsch zur Unterstützung inhaftierter Studierender. Ägypten, 2015

Im Jahr 2010 wurde Ägypten durch den Tod von Khaled Saeed erschüttert, der von der Polizei getötet wurde. Dieses Ereignis gilt für viele als einer der Auslöser der Revolution in Ägypten 2011. „Am Anfang dachten wir, dass es ein sehr kleiner Protest sein würde. Dann kamen die Leute von überall her“, erinnert sie sich. „Das Kuriose daran ist, dass ich einige Tage zuvor wegen des Protestes in Solidarität mit den in der al-Qiddissin-Kirche getöteten Menschen verhaftet worden war. Am 25. Januar kamen meine Freunde zu mir und sagten: Du wirst dich diesem Protest nicht anschließen; dein Gesicht ist sehr bekannt und dadurch wird die Polizei auf uns aufmerksam werden.“

Mahienour El-Massry wollte ihre Sicherheit nicht aufs Spiel setzen und versicherte ihnen, dass sie sich unauffällig verhalten würde. Zunächst sah sie nur einige kleinere Gruppen auf den Straßen, doch plötzlich strömten viele Menschen herbei. „Ich war überrascht. Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen. Natürlich wurden Waffen eingesetzt, es floss Blut und es wurde geschossen, Menschen wurden verletzt. Aber man konnte sehen, dass sie keine Angst hatten. Sie sagten: ‚Das ist unser Land. Das ist unser Leben. Das ist unsere Zukunft, und für uns gibt es kein Zurück mehr.‘ Es war der Tag, an dem ich glaubte, dass die Menschen stärker sind als alles andere, dass all die Jahre, in denen den Menschen ihre Rechte und ein gesundes politisches Umfeld vorenthalten wurden, sie nicht zum Schweigen bringen werden. Die Menschen werden dich noch überraschen. Deshalb habe ich trotz der schrecklichen Situation, in der wir uns jetzt befinden, nach wie vor Vertrauen“, so die Aktivistin mit einem Lächeln.

Als sie an diesem Tag durch die Straßen marschierten, trafen Mahienour und ihre Freunde auf ihre älteren Mitstreiter, die bereits in den 1970er Jahren als Aktivisten tätig waren. „Mein Herz hat sich einfach überschlagen. Ich fand es sehr großzügig vom Universum, dass sie einen solchen Tag erleben durften. Meine Tante war Journalistin, sie gehörte der Opposition an. Sie starb im Jahr 2000. Ich dachte mir, wenn sie hier wäre, hätte sie das Gefühl, dass sie mit ihrem Glauben an die Menschen richtig lag.“

Mahienours Tante Sana'a, Journalistin und Mitglied der Opposition

Präsident Mubarak wurde zum Rücktritt gezwungen, aber die Euphorie währte nicht lange. Die Revolution verängstigte auch die Machthaber, die das Land übernahmen, was zu einem Anziehen der politischen Zügel und einer verstärkten Verfolgung derjenigen führte, die mit dem neuen Regime und seiner Auffassung von Freiheit unzufrieden waren. Zehntausende Ägypter sind seitdem immer wieder auf die Straße gegangen, um weitere Rechte einzufordern. Viele von ihnen, darunter auch Mahienour El-Massry, sind verhaftet worden. 

„Wir haben keine genauen Angaben über die Zahl der politischen Gefangenen, aber insgesamt gehen wir von 60.000 aus, allein wenn wir uns die Fälle vor Gericht ansehen. Seit 2013 wurde ich viermal verhaftet. Eines Tages ging ich auf eine Polizeistation, um als Anwältin einige Demonstranten zu vertreten. Ich wurde zusammen mit einigen meiner Kolleginnen und Kollegen verhaftet. Insgesamt habe ich etwa dreieinhalb Jahre im Gefängnis verbracht. Es mag viel erscheinen, aber im Vergleich zu anderen hier in Ägypten ist es nicht viel“, so die Aktivistin. 

Mahienour El-Massry bei Gericht als Prozessbevollmächtigte der Demonstranten mit Rechtsanwalt Mohamed Ramdan (derzeit in Haft). Ägypten, 2014

Mahienour wurde zuletzt im Juli 2021 freigelassen und vertritt seither wieder politische Gefangene vor Gericht. „Meine Kolleginnen und Kollegen und ich versuchen auch, Kampagnen gegen die Armut zu starten, denn die wirtschaftlichen Verhältnisse hier in Ägypten sind vollkommen irrwitzig. Außerdem versuchen wir, eine Art feministische Welle anzustoßen, um all die Frauen zu unterstützen, die ihre Rechte vor Gericht einfordern oder die eine Änderung bestimmter Gesetze erreichen wollen. Das mache ich hier in Ägypten, aber ich versuche auch, andere Aktivisten [im Ausland] zu erreichen, Menschen, die wie ich denken.“ 

Die unermüdliche Aktivistin wirkt wie eine zusammengedrückte Feder, die bei jeglichem Anzeichen von Ungerechtigkeit in die Höhe schnellt. Wie gelingt es ihr, ihre Leidenschaft und ihren Glauben an eine bessere Zukunft zu bewahren? „Ich habe große Unterstützung von meiner Familie und meinen Freunden, das macht die Sache natürlich einfacher. Ich fühle mich glücklicher als andere Aktivistinnen, die zum Beispiel Probleme mit ihren Familien haben, was für mich das Schlimmste wäre, was passieren könnte. Ich bin sehr glücklich. Ich fühle mich privilegiert.“

„Präsidenten, Diktatoren und Tyrannen gehen ständig Allianzen ein, und sie wissen, wo ihre Interessen liegen. Sie versuchen, uns zu spalten, aber wir müssen auch unsere eigenen Verbündeten finden. Und wir müssen menschlicher werden. Natürlich schockieren uns manchmal schreckliche Dinge, aber durch schreckliche Situationen wird uns klar, dass wir mehr Widerstand leisten müssen. Eine der Lektionen, die ich mir zu Herzen nehme, ist, dass die Redewendung ‚der Feind meines Feindes ist mein Freund‘ nicht stimmt. Mein Freund ist derjenige, der meine Überzeugungen teilt. Nur das zählt.“

Foto oben: ©David Degner / Getty Images