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Silvina Der-Meguerditchian

Silvina Der-Meguerditchian

Silvina Der-Meguerditchian ist heute eine anerkannte Künstlerin. Ihre Arbeit wurde durch zahlreiche internationale Stiftungen und Institutionen gefördert. Auf der diesjährigen Biennale in Venedig erhielt sie zusammen mit anderen Künstlern des armenischen Pavillons den Goldenen Löwen. Als Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya, einer Künstlerresidenz des Auswärtigen Amt und des Goethe-Instituts in Istanbul, wird sie die Ausstellung ENKEL organisieren, parallel zur 14. Istanbuler Biennale. Die Lebensgeschichte ihrer Großeltern, die den Genozid überlebten, hat sie nicht losgelassen. Heute erzählt sie darüber in ihrer Kunst. Lesen Sie die Geschichte der Familie Der-Meguerditchian.
 

Es ist ein heißer Sommertag in Claypole, einer Kleinstadt südlich der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Man merkt förmlich, wie die heiße Luft von der Erde über die Füße und Arme gleitend nach oben steigt. Zwei kleine Mädchen mit kurz geschnittenem Haar und fröhlichem Gemüt spielen im Schatten eines großen Lindenbaums, während Großmutter Aghavni und Mutter Elena in der Küche das Essen zubereiten. 

Aghavni Tengerian beobachtet aus dem Küchenfenster das Spiel ihrer Enkelkinder. Wie gern hätte auch sie eine unbeschwerte Kindheit gehabt. Aghavni kennt große Verluste und empfindet das Beisammensein mit ihrer Familie als ein großes Glück. Bedauerlich ist nur, dass ihr Mann Levon das alles nicht mehr miterleben kann. Levon Der-Meguerditchian verstarb noch vor der Geburt der Töchter ihres ersten Sohnes Hovhannes.

 

 

Levons Enkelkinder Silvina und Adriana spielen mit anderen Kindern in ihrem Garten in Claypole

Als das letzte Stück Sarma, ein traditionelles armenisches Hackfleischgericht, in den Topf wandert, hört sie Silvina aufgeregt rufen: „Mami, schau her, der abgehackte Baum sprießt wieder.“ Die Frauen versammeln sich vor dem einstigen Granatapfelbaum. Aus Platzgründen hatte Elena den zweiten Granatapfelbaum abgesägt. Mit dem Stamm wollte sie den Garten dekorieren. Sie hatte die Wurzeln und die Zweige abgeschnitten und anschließend den Stamm lackiert. Zum Erstaunen der ganzen Familie bekam der Stamm nach wenigen Monaten wieder Triebe. 

Die Granatapfelbäume hatte Levon als Zeichen seiner Dankbarkeit gepflanzt.  

 

Levon Der-Meguerditchian

Levon und der Granatapfelbaum 

Es ist Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg droht auszubrechen.

Überall im Armenischen Hochland, das man heute als Anatolien kennt, finden großflächige Deportationen der Armenier statt. 

Der Boden fühlt sich kalt und schmutzig an. Ein junger Mann von zwanzig Jahren versucht, in dem kleinen, engen und halbdunklen Raum weitere Gesichter zu erkennen. Es sind Armenier, Kurden und Araber dabei. Festgenommen wie er wissen sie nicht, was sie erwartet. Die meisten schlafen, um den Hunger zu verdrängen. Levon Der-Meguerditchian macht sich Vorwürfe, die Ortschaft nicht schon früher verlassen zu haben. Schon einmal war er dem Tod entkommen, damals mit fünf Jahren. Die Gendarmen klopften eines Tages an ihre Tür, sein Vater versteckte ihn in einem Kleiderschrank und gab an, alleine Zuhause zu sein. An dem Tag verlor er seinen Vater.  

Es war schwer, die Felder seines Vaters und den ertragreichen Lebensmittelhandel einfach aufzugeben. Jeden Tag ritt er auf seinem weißen Pferd hinaus, um die Felder zu kontrollieren. Die Familie Der-Meguerditchian war in Marasch, heutigem Kahramanmarasch im Südosten der Türkei, bekannt. Die Leute mochten Levon und nannten ihn den Reiter auf dem weißen Pferd. 

 

 

Marasch

Levon horcht auf, als der Gefängniswärter einen arabischen Namen in die Menge ruft: „Wer von euch ist Azmi Chalid? Er ist frei und kann gehen!“ Keiner antwortet. Als der verärgerte Gefängnisarbeiter den Mann erneut auffordert sich zu melden, ergreift Levon seine Chance. „Ich bin’s“, sagt er auf Arabisch. Das wird nicht das letzte Mal sein, dass seine Sprachkenntnisse ihm das Leben retten.

Neben Arabisch spricht Levon fließend Französisch. Ende 1890 existierten in Marasch amerikanische und französische Missionsschulen, so dass die Einwohner der Provinz mehrsprachig aufwuchsen.

Pochenden Herzens folgt Levon dem Gefängniswärter, der ihn zum Ausgang begleitet. Bald finden Gendarmen jedoch heraus, dass sie den Falschen haben laufen lassen und verfolgen ihn. Um ihnen zu entkommen, quetscht er sich mühsam durch die dichten Äste eines Granatapfelbaums, den er neben sich entdeckt.

Mit Schürfwunden an Beinen und Armen verharrt er dort drei lange Tage und Nächte, bis die Suche nach ihm aufgegeben wird. 

Istanbul, 1920er Jahre

Nach langen Umwegen gelingt es Levon, mit seinen Ausweispapieren in Istanbul anzukommen. Er hat nur ein Ziel vor Augen: für die Franzosen zu arbeiten. Würde er sich dank seiner guten Kenntnisse der französischen Sprache für sie nützlich machen können, bekäme er ihren Schutz und könnte in Istanbul bleiben. Zu seiner Freude bekommt er vom französischen Protektorat die notwendigen Papiere und darf sich in Istanbul frei bewegen. Er meldet sein Gewerbe in der Istanbuler Handelskammer an und mietet sich in ein Zimmer in einem Khan, einem Gasthaus.

Die Nachrichten über die andauernden Massaker an den Armeniern, das Gefühl in ständiger Lebensgefahr zu sein, all das erträgt Levon nur mit großer Mühe, doch der Gedanke, seine Heimat zu verlassen, der erscheint ihm schlimmer. 1920 wird der Vertrag von Sèvres unterzeichnet. Viele Armenier verbinden damit große Hoffnungen, die jedoch drei Jahre später mit dem Vertrag von Lausanne zunichte gemacht werden.  Mit diesem Abkommen legalisiert die Türkei die Vertreibung der Armenier und anderer Christen. In diesem Augenblick wird Levon klar, dass er in der Türkei keine Zukunft hat.  Noch im selben Jahr reist er mit dem Schiff nach Marseille.  

 

Levon und Aghavni 

Nach seiner Ankunft in der Hafenstadt Marseille verrichtet Levon zunächst Logistikarbeiten für das französische Unternehmen Renault. Aus Istanbul hatte er einige Ersparnisse mitgebracht, so dass er nach einigen Monaten harter Arbeit genug zusammengespart hat, um nach Paris zu ziehen und dort in der Rue du Cherche-Midi eine Boutique für Bettwäsche zu eröffnen. Die Zeit vergeht und das Leben geht seinen geordneten Gang. Das Gefühl in Lebensgefahr zu sein schwindet allmählich, und Levon fühlt sich bereit eine Familie zu gründen. 

 

 

Le Rue Du Cherche-Midi

Im Jahr 1927 lernt er ein schönes Mädchen aus der zentralanatolischen Stadt Sebastia, dem heutigen Sivas, kennen. Aghavnis Vater war Schmied von Beruf und noch vor 1915 ermordet worden. Sie, ihre Mutter und die anderen drei Geschwister wurden in die Syrische Wüste geschickt. Aghavni Tengerian und ihre Schwester Shnorhig überlebten als einzige aus ihrer Familie den Todesmarsch. Sie musste mit ansehen, wie sich ihre Mutter eines Tages an einem Baum lehnte und nicht mehr aufwachte, und wie ihre jüngeren Geschwister dahinstarben.

Auch Aghavni wäre wohl dasselbe Schicksal zuteil geworden, wenn sie nicht von einer türkischen Familie aufgenommen worden wäre. Als Dienstmädchen hatte sie zwar viel Arbeit, aber wenigstens ein Dach über dem Kopf. Zu jener Zeit entwickelt sie eine Gewohnheit, die sie auch im hohen Alter praktizieren wird. 

Um nicht zu vergessen, wer sie war, schrieb sie jeden Tag ihren Namen und ihre Herkunft auf kleine Zettel, rollte sie zusammen und versteckte sie in den Mauernischen. Am nächsten Tag holte sie diese hervor und las sie.

Als die großflächigen Todesmärsche und der Erste Weltkrieg zu Ende waren, starteten die Hilfsorganisationen eine Suche nach christlichen Waisenkindern,unter anderem denen, die bei muslimischen Familien lebten. Dank ihres ausgeklügelten Systems der Identitätswahrung konnte Aghavnis Onkel, der noch vor 1900 nach Boston ausgewandert war, sie in einem Waisenhaus in der libanesischen Hauptstadt Beirut als Verwandte identifizieren. Aghavni sollte nun über Paris nach Boston reisen, wie ihre Schwester Shnorhig, die von einer kurdischen Familie aufgenommen worden war. Aghavnis Reise endet jedoch zunächst in Paris. Sie heiratet Levon noch im selben Jahr. 1929 bekommen sie eine Tochter und nennen sie Anahid.  

 

Levons Frau Aghavni mit ihren Kindern Anahid und Hovhannes  

Der Zweite Weltkrieg und die Favelas von La Boca. 

Die politischen Entwicklungen in den 1930er Jahren besorgten Levon sehr. Er ahnte, dass ein Zweiter Weltkrieg bevorsteht und plante seit längerem die Ausreise seiner Familie nach Argentinien. Nach sechs Jahren Aufenthalt in Paris verlassen die Der-Meguerditchians für immer Frankreich und kommen in La Boca an, dem Viertel der italienischen Einwanderer. In den 1930er Jahren war Argentinien als eines der reichsten Länder der Welt bekannt und daher ein beliebtes Einwanderungsland.

Die Der-Meguerditchians wohnen in Conventillos, typischen Wellblechbaracken mit schlechten hygienischen Bedingungen. Das tägliche Brot verdient Levon als Taxifahrer. Dank seines Fleißes, seiner Weitsicht und seiner Zielstrebigkeit schafft er es dennoch, in Claypole, einer Vorstadt von Buenos Aires, ein kleines Geschäft zu eröffnen.

 

 

La Boca, 1900er Jahre 

Hovhannes, der Träumer

Im Jahr 1932 kommt ihr erster Sohn auf die Welt, sie nennen ihn Hovhannes. Er ist ein neugieriger Junge, der vor Ideen sprudelt und gerne träumt. So träumt er von einer Ausbildung als Sänger und einer Karriere in der Colón-Oper. Sein Vater Levon hat jedoch andere Pläne. Nach der Grundschule soll er sich auf eine Karriere als Geschäftsmann vorbereiten. Mit zwei Arbeitskräften geht es der Familie Der-Meguerditchian zunehmend besser. Als sieben Jahre später ihr jüngster Sohn Mkrtich auf die Welt kommt, können sie ihm weit bessere Lebensbedingungen bieten. Sie sind von La Boca in die bessere Wohngegend von Claypole umgezogen und besitzen dort ein schönes Haus mit einem großen Garten.

Hovhannes, der im Kirchenchor gern gesehen ist, lernt dort im Alter von 32 Jahren seine künftige Frau Elena kennen. Elena ist Lehrerin von Beruf und stammt aus einer armenischen Künstlerfamilie aus Ajntab, heutigem Gaziantep im Südosten der Türkei. Drei Monate vor der Hochzeit erleidet Levon jedoch einen Herzinfarkt. Hovhannes übernimmt das Geschäft seines Vaters.

 

 

Levons Sohn mit seiner Frau Elena

Der herrliche Duft von Sarma holt Aghavni zurück aus ihren Erinnerungen. Der Tisch ist schon gedeckt. Tage wie diese genießt Aghavni sehr. Sie empfindet die 70er-Jahre als Zeiten der Geborgenheit und des Friedens. Heute gehören sie zur argentinischen Gesellschaft, sprechen Spanisch und haben ein geregeltes Leben. 

Das Leben von Silvina nimmt allerdings einen ungewöhnlichen Lauf. Wie ihr Vater Hovhannes hat sie keine Angst zu träumen und sich höhere Ziele zu setzen. Jahre später, 1990, ein Jahr vor ihrem Tod, wird Aghavni den künftigen Mann ihrer Enkelin, Oliver aus Deutschland, kennen lernen und zu ihm sagen: „Du hast die schönste Blume aller Blumen!“  

Silvina Der-Meguerditchian ist heute eine anerkannte Künstlerin. In ihren Werken befasst sie sich mit der Geschichte Armeniens und der armenischen Identität. Sie lebt und arbeitet in Berlin. 

Mehr über Silvina Der-Meguerditchian lesen Sie hier.

Die Geschichte wurde vom Forschungsteam der Initiative 100 LIVES verifiziert.