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Von Nachbarn, Plänen und Rückspiegeln

Von Nachbarn, Plänen und Rückspiegeln

Von Mark Grigoryan

 

Nach einer Reihe von Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Völkermordes richtete die armenische Hauptstadt Jerewan die Premiere von „1915“ aus. Der Film ist ein psychologischer Thriller über den Völkermord und die anschließende Verdrängung. Regie führten Garin Hovannisian und Alec Mouhibian, die Rollen sind besetzt mit armenischen und amerikanischen Schauspielern, darunter Simon Abkarian, Angela Sarafyan, Samuel Page, Nikolai Kinski und andere.
 
Einen Erzählstrang des Filmes möchte ich Ihnen nun kurz vorstellen: An einem Theater in Los Angeles bereitet sich ein Ensemble aus armenischen und amerikanischen Schauspielern auf die Uraufführung eines Stückes über den Völkermord vor.
 
Die Handlung des Stückes steht stellvertretend für viele Einzelschicksale in der damaligen Zeit: Das Oberhaupt einer armenischen Familie wird zur Armee eingezogen, während Mutter, Frau und Sohn auf einen Marsch durch die Wüste nach Deir ez-Zor geschickt werden, wo auch die letzte Szene spielt: Ein türkischer Offizier hat sich in die Frau mit Namen Ani verliebt und bittet sie, Schwiegermutter und Sohn sich selbst zu überlassen, was den sicheren Tod in der Wüste bedeutet.
 
Dem Drehbuch zufolge bleibt ihr keine andere Wahl, als den Vorschlag anzunehmen. Die Tragödie des armenischen Volkes wird versinnbildlicht durch das Dilemma der Frau, deren einzige Hoffnung auf Überleben während des Völkermordes darin besteht, alles aufzugeben, woran sie hängt, die im Stich zu lassen, die sie liebt.
Doch bei jeder Probe der Schlussszene blickt Schauspielerin Angela – sie gibt auf der Bühne die Ani – dem amerikanischen Kollegen in der Rolle des türkischen Offiziers ins Gesicht und sagt nein.
 
Alle reden nun mit Engelszungen auf sie ein, sie möge sich doch bitte an das Drehbuch halten und ihre Zeile richtig aufsagen. Irgendwann scheint sie endlich nachzugeben, aber als wieder genau diese Schlussszene geprobt wird, lässt sie Ani wieder nein sagen. Sie sagt nein, weil sie sich einfach nicht vorstellen kann, ihre Familie und ihren Glauben zu verraten, ihre armenische Identität aufzugeben.
 
Zur selben Zeit wird allen klar, dass sie nur Theater spielen, dass die Ereignisse auf der Bühne nicht real sind, dass sie als Schauspieler nur in verschiedene Rollen eines Stückes über das Jahr 1915 geschlüpft sind. Der wirkliche Name der Hauptdarstellerin ist Angela, nicht Ani. Doch es nutzt nichts: Als bei einer erneuten Probe der Schlussszene der türkische Offizier Ani bittet, mit ihm davonzulaufen, weigert sie sich. Es sind nur noch wenige Stunden bis zur Uraufführung und das Ensemble kann nicht sicher sein, ob sich die Schauspielerin vor echtem Publikum an das Drehbuch hält.
 
Ich möchte nicht die ganze Geschichte verraten, die Neugierigen unter Ihnen können sich den Film gerne anschauen. Erwähnen möchte an dieser Stelle noch, dass die Ereignisse im Film sich auf eine Weise zutragen, die eines klarmacht: Wäre die Rolle des zur Armee eingezogenen Ehemannes mit dem armenischen Verfasser und Regisseur des Stückes besetzt, der im wirklichen Leben auch Angelas Ehemann ist, würde Ani ja sagen, denn ihr Ehemann lebt in der Vergangenheit und steht daher für ebendiese, ohne sie jemals hinter sich gelassen zu haben. Durch die Aufführung dieses Stückes ruft er Erinnerungen wach, an die Vergangenheit und die Opfer des Völkermordes, während der türkische Offizier Ani eine Zukunft bietet: eine unbekannte und unsichere zwar, doch immerhin eine Zukunft. 
 
Sicherlich vermittle ich hier nur eine ziemlich vage Vorstellung von der Wahl, vor der Ani steht – die Verfasser lassen die Frage weitaus zurückhaltender stellen. Dennoch zwingt einen allein schon die Vorstellung, man stehe vor eben solch einer Wahl, über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken. Der Film überlässt die Beantwortung dieser Frage dem Zuschauer, und zwar zurecht, denn jeder von uns muss sich früher oder später damit auseinandersetzen.
 
Auch ich kam nicht umhin, über die Vergangenheit und die Zukunft der Beziehungen zwischen Armeniern und Türken nachzudenken – bevor und nachdem ich zur Premiere von „1915“ gegangen war. Das erinnert mich übrigens an eine Begebenheit, die sich vor längerem bei der BBC zutrug.
 
Eines Tages bekam ich einen Anruf von der Presseagentur. Man bat mich, ein Statement des armenischen Präsidenten anzuhören und zu überprüfen, ob es korrekt ins Englische übersetzt worden sei. Ich sagte natürlich ja und man schilderte mir die Situation: Ein Korrespondent der BBC hatte ein Interview mit der Presseabteilung des Präsidenten vereinbart, um über den Sieg der Armenier bei der Schach-Mannschaftsweltmeisterschaft zu sprechen.
Das Interview lief wie geplant. Man sprach über Schach und Schachspieler, über die Vorbereitungen auf die Partien und über die Spielweise. Am Ende des Interviews sagte der Korrespondent zum Präsidenten, er könne sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, nach den armenisch-türkischen Beziehungen zu fragen. Serzh Sargsyan antwortete mit einer interessanten Analogie.
 
Er sagte, es sei gewiss wichtig, den Blick nach vorne Richtung Zukunft gewandt zu haben, doch dürfe man darüber nicht die Vergangenheit vergessen. „Es ist wie beim Autofahren“, fügte der Präsident hinzu. „Man schaut zwar fast die ganze Zeit nach vorne, doch ab und an geht der Blick in den Rückspiegel, um festzustellen, was hinter einem passiert. Wir haben verstanden, dass man nicht weiterkommt, wenn man nur in den Rückspiegel schaut.“
 
Die Übersetzung stimmte und das Zitat wurde auf BBC Radio gesendet. So gelangte es hinaus in die ganze Welt.
Ich denke über Fragen nach, die Vergangenheit und Zukunft betreffen. Ich tue dies und stelle dabei fest, dass nur wenige von uns Armeniern, die wir in Armenien leben, zu der Einsicht gelangen, dass wir immer neben Türken und Aserbaidschanern werden leben müssen, ob uns das nun gefällt oder nicht.
 
Wir können unser Land, unsere Heimat nicht einfach nehmen und an anderer Stelle absetzen, nur weil wir gerne neue Nachbarn hätten. Es ist gerade dieses Unvermeidliche, weswegen wir Wege finden müssen, mit unseren Nachbarn ins Gespräch zu kommen. Früher oder später müssen wir genau das – und mit Sicherheit sollte es eher früher als später so weit sein.
 
Man kann nicht nur in der Vergangenheit leben: Wir müssen unbedingt die Zukunft im Blick haben. Aber wissen wir überhaupt, wie das geht? Manchmal scheint es, als müssten wir das erst noch lernen. So ist der Film „1915“ einer von vielen Versuchen, eine dieser Fragen über die Zukunft zu stellen. Ich betrachte ihn als ziemlich erfolgreichen Versuch. Oder sollte ich die Absicht des Drehbuchautors missverstanden haben?
 
 
Mark Grigoryan ist ein bekannter Journalist und arbeitet seit mehr als zehn Jahren für die BBC.